Mit kurzen, knackigen Slides brettert die Dorsoduro aus den Ecken. Die Traktionskontrolle fängt das ausbrechende Hinterrad immer wieder zuverlässig ein. Dadurch verführt die Fahrhilfe den Piloten, noch härter zu beschleunigen. Also Pobacken zusammenkneifen, und noch früher und brutaler ans Gas gehen. Doch so sehr er sich müht, das Kabel am Scheitelpunkt voll zu spannen, bis zum Anschlag fehlt jedes Mal noch ein gutes Stück. Um die Brause komplett zu öffnen, geht einem schlicht zu sehr die Düse!
Keine Frage, der Tanz auf Messers Schneide kostet Überwindung. Dazu ist auch viel Zutrauen in die erstmals in -einer Supermoto verbaute Technik nötig. In diesem Punkt ist die Aprilia Dorsoduro 1200 ABS/ATC absolut vertrauenswürdig, denn das System funktioniert erstklassig. Auf Position eins, der schärfsten von drei Stufen, lässt die ATC (Aprilia Traction Control) allerdings so viel Schlupf zu, dass wohl nur schmerzfreie Cracks voll stehen lassen, wenn das Heck wild zu schlingern beginnt. Da hilft nur eins: langsam herantasten. Dazu eignen sich die Stufen zwei oder drei hervorragend, denn hier regelt die ATC deutlich früher. Optisch zu erkennen an der gelben Warnleuchte im Cockpit, die beim Eingreifen der Traktionskontrolle nervös flackert. Angehende Drift-Profis aufgepasst: In Erste-Gang-Bögen herrscht bei weit geöffneten Drosselklappen so viel Zugkraft am Hinterrad, dass trotz ATC Highsider drohen. Und bei kalten Reifen schützt kein System der Welt vor einem Abflug, wenn der Hahn in Schräglage zu stark gespannt wird.

Auch weniger ehrgeizigen Piloten hilft das System. Denn bei Nässe oder großen Reibwertsprüngen der Straße verhindert es, dass das Hinterrad plötzlich die Front überholt. Einen Nachteil hat die Traktionskontrolle aber: Ist sie aktiviert, lässt sie keine Wheelies zu. Fast schon eine Sünde, denn derartige Einlagen gehören zu einer Supermoto wie leicht bekleidete Gridgirls in die Startaufstellung. Da sich das System nur bei stehendem Bike zu- oder abschalten lässt, muss sich der Dorsoduro-Treiber vorm Losrollen pro oder contra ATC entscheiden.
Bevorzugt er Wheelies, empfiehlt sich der Touring-Modus „T" der per Knopfdruck wählbaren drei Motorcharakteristiken. In „T" geht die Italienerin sehr weich ans Gas und bietet trotzdem die volle Leistung. Im Sportmodus „S" liefert die Supermoto ebenfalls den kompletten Punch, springt aber sehr abrupt ans Gas. Das vermittelt beim Kampfballern zwar ein sehr direktes Gefühl, verursacht im Alltag aber harte Lastwechselschläge. „R" steht für Rain und bleibt vorsichtigen Naturen auf nassen Straßen vorbehalten. Wie die Touring-Variante bietet diese Position ein sanftes Ansprechverhalten, kappt aber die Leistung. Ab zirka 5500/min generiert der Antrieb weniger Schmalz, in der Spitze schickt er 104 statt der unbeschnittenen 130 PS zum Getriebe.
Eine echte Verschwendung, denn jedes einzelne Pony verursacht einen wahren Glücksrausch. Mit brachialer Gewalt feuert die 1200er los, der Pilot genießt die Show mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und zügelloser Begeisterung. Bereits ab 2500/min schiebt der eigens für die Dorsoduro konstruierte V2 ohne zu ruckeln an und puncht nahezu lochfrei bis zum elektronischen Stopp bei 9500/min. Akustisch untermalt das großartige, sonore Grollen des Underseat-Auspuffs das hohe Potential des Zweizylinders. Ab 7000 Touren und voll geöffneter Brause spürt der Aprilia-Treiber das mächtige Poltern der gnadenlos auf und ab jagenden, -fetten 106er-Kolben. Bei diesen Drehzahlen erzeugt der Antrieb auch hochfrequente Vibrationen, die den Erlebniswert jedoch nicht schmälern. Geradezu samtweich läuft das 1200er-Aggregat zwischen 3500/min und 4500/min bei -mäßig geöffneten Drosselklappen.
Und die Schattenseite? Ganz klar der hohe Verbrauch. Satte 9,5 Liter auf 100 Kilometer gönnt sich die Italienerin bei sportlicher Fahrweise - eindeutig zu viel. Da der Tank nur 15 Liter fasst, muss der Sumo-Held häufig einen Zwischenstopp an der Tanke einlegen. Auch die schwergängige Kupplung und das etwas knochige Getriebe lösen keine Freudentaumel aus. Bis auf diese Unzulänglichkeiten ist der V2 aber ein echtes Prachtstück.

Fürs Fahrwerk gilt das auch, jedoch ebenfalls mit kleinen Einschränkungen. Denn in der Dorsoduro ist drin, was draufsteht: Der Name bedeutet auf Deutsch „harter Rücken“. Tatsächlich verlangt die Aprilia von ihrem Piloten eine gewisse Leidensfähigkeit. Zumindest in der Standardeinstellung springen Gabel und Federbein über grobe Unebenheiten regelrecht hinweg und schicken die Stöße nahezu ungefiltert zum Piloten. Erst nachdem wir die Dämpfung stark gesoftet haben, gibt sich die Italo-Braut gefälliger. Nun läuft sie geschmeidig über Asphaltrunzeln. Lediglich harte Kanten dringen speziell hinten noch zum Fahrer durch.
Trotz der Wellness-Kur liegt die Aprilia sehr satt und vermittelt ein ordentliches Feedback von der Straße. Außerdem brennt sie für ein Bike mit langen Federwegen recht zielgenau in und um die -Bögen. Spüren lässt sie den Fahrer allerdings beim Abwinkeln ihr hohes Kampfgewicht von 227 Kilogramm. Zum leicht sperrigen Handling trägt auch der effektiv 187 Millimeter breite hintere Pneu bei, der laut Kennzeichnung eigentlich ein 180er ist. Die Pelle spannt sich etwas flacher und dadurch auch breiter über die Sechs-Zoll-Felge, die normalerweise Schluffen in 190er-Dimension aufnimmt. Unverständlich, warum Aprilia ein so fettes Rad in eine Supermoto pflanzt.
Thema Bremsen. Die Stopper beißen gewaltig zu. Allerdings benötigen sie dafür etwas Handkraft. Wie bei der Präsentation (PS 12/2010) erstaunt die Abstimmung des ABS, das bei hartem Ankern und viel Grip ein stark abhebendes Hinterrad und im Extremfall den Salto vorwärts zulässt. Erfahrene Jockeys ziehen das sehr späte Eingreifen zwar einem zu früh regelnden System vor. Weniger Geübte sollten sich aber auf diese Eigenart einstellen. Oder die Finger von der Dorsoduro 1200 lassen. In diesem Fall entgeht ihnen allerdings die fesselnde Fahrdynamik der stärksten Serien-Supermoto des Planeten.





Messwerte / Technische Daten


Technische Daten
Antrieb
Zweizylinder-90-Grad-V-Motor, 4 Ventile/Zylinder, 95,5 kW (130 PS) bei 8700/min*, 115 Nm bei 7200/min*, 1197 cm³, Bohrung/Hub: 106,0/67,8 mm, Verdichtung: 12,0:1, Zünd-/Einspritzanlage, 52-mm-Drosselklappen, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, G-Kat, Kette
Fahrwerk
Stahl-Gitterrohrrahmen mit angeschraubten Alu-Gussprofilen, Lenkkopfwinkel: 65,1 Grad, Nachlauf: 118 mm, Radstand: 1528 mm, Upside-down-Gabel, Ø Gabelinnenrohr: 43 mm, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe. Seitlich direkt angelenktes Federbein, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe. Federweg vorn/hinten: 160/155 mm
Räder und Bremsen
Leichtmetall-Guss-räder, 3,50 x 17“/6.00 x 17“, Reifen vorn: 120/70 ZR 17, hinten: 180/55 ZR 17, Erstbereifung: Pirelli Diablo Rosso II, 320-mm-Doppelscheibenbremse mit radial angeschlagenen Vierkolben-Festsätteln vorn, 240-mm-Einzelscheibe mit Einkolben- Schwimmsattel hinten
Maße und Gewicht
Länge/Breite/Höhe: 2190/900/1320 mm *, Sitz-/Lenkerhöhe: 880/1100 mm, Lenkerbreite: 775 mm, 227 kg vollgetankt, v./h.: 47,4/52,6 %
Hinterradleistung im letzten Gang
88 kW (120 PS) bei 220 km/h * *
Verbrauch
Kraftstoffart: Super bleifrei. Durchschnittstestverbrauch: 9,5 Liter/100 km, Tankinhalt 15 Liter, Reichweite: 157 km
Grundpreis
11799 Euro (zzgl. Nebenkosten) Aufpreis ABS/ATC: 1000 Euro
Fahrleistungen
Höchstgeschwindigkeit*:
220 km/h
Beschleunigung**:
0-100 km/h in 3,5s
0-150 km/h in 6,2s
0-200 km/h in 12,1s
Durchzug**:
50-100 km/h in 4,5s
100-150 km/h in 5,3s
*Herstellerangabe **PS-Messung





Bewertung / PS-Urteil





Bewertung: 174 von 250 Punkten
Pro
Klasse 1200er-Aggregat mit Punch in allen Lagen, Wahnsinns-Sound, drei verschiedene Motorcharakteristiken, Traktionskontrolle, ABS, superbe Bremswirkung, bequeme und dennoch aktive Sitzposition, hoher Erlebniswert.
Contra
Hoher Verbrauch, geringe Reichweite, Kupplung schwergängig, Federbein im High-Speed-Bereich unkomfortabel, Überschlag trotz ABS nicht ausgeschlossen, bei zugeschalteter Traktionskontrolle keine Wheelies möglich.
PS-Urteil
Die Aprilia Dorsoduro 1200 ABS/ATC ist ein schlagkräftiger Landstraßenfeger, der auch eine härtere Gangart -locker wegsteckt. Die superbe Trak-tionskontrolle (ATC) wird Anfängern wie Profis gleicher-maßen gerecht. Aprilia sollte nur daran arbeiten, bei aktivierter ATC Wheelies zuzulassen. Dann wäre die fahraktive Power-Sumo perfekt.




