Es ist der Respekt vor einem aggressiv fauchenden Tier, den Testchef Ralf Schneider bei seinem Erstkontakt auf der Rennstrecke in Homestead/Florida in Worte fasst: grimmig, atemraubend. Denn die ZX-10R markiert bei ihrer Präsentation im Dezember 2003 den vorläufigen Gipfel des Supersportler-Zenits: 175 PS und 198 Kilogramm vollgetankt. Selbst heute, anderthalb Jahre später, steht die Kawa in puncto Gewicht noch auf der Pole Position. In der Leistung hingegen hat Suzukis GSX-R die ZX-10R um drei PS übertrumpft.
Klar, niemand braucht diese Höchstleistung auf der Landstraße. Kein Wun-
der also, dass die Mitglieder der touristisch angehauchten Redaktionsfraktion die Nase rümpften, als das Kraftpaket im
Juni 2004 in der Redaktions-Tiefgarage den Dauertestfuhrpark bereicherte. Ausgerechnet Action-Team-Tourguide Daniel Lengwenus, ein gemütlicher Zeitgenosse mit grauen Schläfen und ordentlich Kontur, bekommt den extremsten Supersportler aller Zeiten als Erster zugeteilt, um eine Pässe-Tour zu führen. Lengwenus kehrt nach 2500 Kilometern mit eingemeißeltem Grinsen zurück. Im Fahrtenbuch Bemerkungen wie »perfekt abstimmte Einspritzung«, »Sound macht süchtig«, »völlige Begeisterung vom Schub in jedem Gang«. Allerdings ist in einem Nebensatz zu lesen: »Komfortabel Reisen ist anders nach 1000 Kilometern nonstop war ich reif für ein heißes Entspannungsbad.«
Dass die Gewinnerin vieler Vergleichstests nicht nur im Kampf auf der Rennstrecke, sondern auch im friedlichen Alltag eine gute Figur macht, liegt zum einen am bereits erwähnten ungeheuren Schub bei jedweder Drehzahl. Ohne Probleme könnte man den gesamten Tag im sechsten Gang cruisend verbringen. Ab 2500/min zieht der Motor sauber und kräftig durch.
Amüsante Kehrseite: Theoretisch käme die ZX-10R in fast 95 Prozent aller Fahrsituationen mit den ersten beiden Gängen aus. Denn der Zweite ist bis 185 km/h übersetzt. Ein weiterer Grund, warum die grüne Rakete den Alltag so locker meistert, ist ihre überragende Handlichkeit.
Sowohl die Rahmengeometrie als auch das Gewicht und der mit 1385 Millimeter radikal kurze Radstand standen noch vor kurzem jeder 600er gut zu Gesicht.
Doch ist die Entwicklungszeit der
großen Grünen zu knapp geraten? Vereinzelte Motorschäden durch zerstörte Lichtmaschinen trüben das Bild der zweimaligen Masterbike-Siegerin. Die Schäden betreffen die Modelle der ersten Auslieferungsserie. Kawasaki rüstet um. Derweil absolviert die MOTORRAD-Dauertestmaschine innerhalb von nur zwei Monaten knapp 10000 Kilometer. Testredakteur Stefan Kaschel beispielsweise legt die rund 530 Kilometer zwischen Stuttgart und seinem zweiten Wohnsitz, dem ostwestfälischen Herford, nachts in knapp drei Stunden zurück. Tanken nicht mitgerechnet. Das ergibt eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 180 km/h bei einem Verbrauch von 8,2 Liter Super.
Ende Juli 2004 wird bekannt, dass
bei zwei europäischen ZX-10R-Besitzern die Vorderräder gebrochen sind. Eine
Horrormeldung. Kawasaki alarmiert rund 19000 Kunden weltweit, verhängt striktes Fahrverbot. Beim Gießen der ZX-10R-Räder sind Fehler im Zulieferbetrieb aufgetre-ten. Bis September sollen alle Vorderräder ausgetauscht werden. In Deutschland betroffen: 1900 Maschinen. Die Dauertestmaschine bekommt am 27. August 2004 bei Kilometerstand 13128 ein neues Rad. Das Kilometersammeln geht weiter.
Bemängelt werden das etwas hakig
zu schaltende Getriebe, die ultrastraffe Grundabstimmung des Fahrwerks, der vergleichsweise rau laufende Motor sowie die Neigung zum Lenkerschlagen. Um Letzteres zu unterbinden, hat MOTORRAD einen Lenkungsdämpfer von LSL und einen von Hyperpro ausprobiert (siehe auch Kasten Seite 36). Beide Exemplare eliminieren starkes Kickback. Der siebenfach verstellbare LSL-Dämpfer ist allerdings nicht so fein einstellbar wie der 22fach justierbare von Hyperpro. Während dieser Nachteil des LSL-Dämpfers auf der Rennstrecke keine Rolle spielt, sind alle, die die Kawa auch zur Fahrt zur Arbeitsstelle oder für
einen Landstraßenbummel nutzen, mit dem RSC-Dämpfer von Hyperpro besser bedient. Denn bei ihm kann die Dämpfung praktisch gen null gestellt werden. Und ermöglicht so den Spagat zwischen Sicherheitsreserven für den Rennstreckeneinsatz und leichtfüßigem Fahren im Alltag.
Apropos leichtfüßig: Über die für einen Supersportler relativ kommode Sitzposition und das superbe Handling sind sich fast alle Piloten einig. Über die enorme Power ebenfalls. Zitat von Testredakteur und Rennstreckenfreak Guido Stüsser (1,95 Meter, 110 Kilogramm): »Brutales Triebwerk macht mich auf der Rennstrecke fertig.« Die stellvertretende Chefredakteurin Monika Schulz (1,56 Meter, 52 Kilogramm) beschreibt ihre Begegnung mit der ZX-10R so: »Perfekt. Nur schade, dass ich schon zu alt für so etwas bin. Fühlt sich an, als ginge man als Greisin eine Liaison mit einem 20-jährigen Adonis ein.« Nebenbei bemerkt: Frau Schulz ist 39.
Bis knapp vor Halbzeit des 50000-
Kilometer-Marathons gibt es keine Schäden oder Ausfälle zu beklagen. Mittlerweile ist es Winter. Gleich zwei Mitarbeiter
stürzen innerhalb einer Woche auf glatter Straße praktisch bei Schrittgeschwindigkeit. Bei Kilometerstand 23100 erhält
die ZX-10R ein komplett neues Plastik-
kleid plus Scheinwerfer und Vorderrad. Der nächste Zwischenfall trifft Heimfahrer
Stefan Kaschel nahe Fulda, kurz vor den »Kaschler Bergen«. Tempo 250 km/h, gute Sicht, voller Tank. Plötzlich kein Vortrieb mehr. Die Antriebskette ist gerissen. Da
sie nicht auffindbar ist, lässt sich die Ursache nicht klären. Zum Glück bleiben Mann und Maschine bis auf ein kleines Loch im Rücklicht unbeschadet. Auf Garantie wird bei Kilometerstand 26965 der Blinkerschalter getauscht. Vorangegangen waren immer wieder sporadische Ausfallerscheinungen beim Rechtsblinken.
Ausfallerscheinungen ganz anderer Art überraschen Chefredakteur Michael Pfeiffer auf der Rennstrecke in Hockenheim. Nach sechs zügigen Runden mit der ZX-10R
versagen die Bremsen bei Kilometerstand 29100 plötzlich ihren Dienst. Zuvor war schon der Druckpunkt gewandert und
hatte zur Vorsicht gemahnt. Routinier Pfeiffer kann Schlimmeres verhindern und rettet sich und die Kawa unbeschadet mit einem Ausritt ins Kiesbett. Der Grund des Bremsversagens ist weder vor Ort noch später
in der Werkstatt ausfindig zu machen; der Druckpunkt hat sich unerklärlicher Weise nach dem Rücktransport wieder eingefunden. Mittlerweile sind MOTORRAD ähnliche Fälle bekannt geworden. Kawasaki Deutschland hat bei den Technikern in
Japan eine Analyse der Bremsbeläge angefordert. MOTORRAD wird die Ergebnisse veröffentlichen.
Auf einer 1500-Kilometer-Etappe nach Frankreich bemängelt Testfahrer Georg Jelicic eine leichte Rastung des Lenkkopflagers. Es wird bei Kilometerstand 32456 getauscht. Anschließend nimmt Testredakteur Rolf Henniges die Kawa mit auf Tour durch Norddeutschland, verbraucht auf 2300 Kilometern im Schnitt nur 5,2 Liter und rutscht nach unverschuldeter Kollision mit einem Audi A6 in eine Wiese. Die linke Verkleidungshälfte sowie der Tank werden erneuert.
Trotz der ein oder anderen Panne bleibt ein positiver Gesamteindruck. Denn Zuverlässigkeit hat die ZX-10R bislang bewiesen. Auch, dass Leistung nicht zum Rasen animieren muss, sondern, wie im Fahrtenbuch oft vermerkt, nur für sehr sicheres Überholen genutzt wird. Der Respekt sollte dabei allerdings nie auf der Strecke bleiben.
Reifenempfehlung
Die beste Power nützt nichts, wenn man sie nicht auf den Asphalt bringen kann. MOTORRAD hat fünf Reifenpaarungen für die ZX-10R getestet. Hauptaugenmerk lag dabei auf dem Spagat zwischen Alltag und Rennstreckeneinsatz.
Außer den hier vorgestellten Paarungen sind derzeit weitere fünf von Kawasaki freigegeben: Dunlop Sportmax D 207 RR, Dunlop Sportmax D 208, Bridgestone BT 014 Radial, Metzeler TL Rennsport, Pirelli Diablo und Continental ContiSportAttack. MOTORRAD wird zumindest noch einige davon auf der ZX-10R im
Rahmen des Dauertests ausprobieren.
Test: AVON AV 59/60 Viper
Lediglich auf der Rennstrecke zeigt sich das Manko
des Avon Viper: Beim harten Beschleunigen fehlt
es dem englischen Gummi etwas an Grip. Für über-
wiegenden Landstraßeneinsatz und gelegentliche
Rennstreckenfahrten ohne Wettbewerbscharakter ist die Paarung jedoch durchaus empfehlenswert. Im Vergleich zum Vorgänger AV 49/50 SP überzeugt der Viper durch deutlich mehr Haftung, leichtfüßigeres Handling und
eine erstaunliche Lenkpräzision. Erst wenn der hintere Gummi beim Beschleunigen aus Schräglage an Haftung verliert, drängt die ZX-10R auf weite Bögen. Der Grenzbereich hinten könnte sich beim harten Beschleunigen ruhig etwas sanfter ankündigen, denn
das abrupte Rutschen über den Hinterreifen sorgt für Unruhe.
Infos: www.avontyres.com
Test: DUNLOP D 208 RR
Für Hobby-Racer, die auf Straße wie Rennstrecke gleichermaßen unterwegs sind, ist
der D 208 RR ein gelungener Kompromiss.
Er bietet ein hohes Niveau an Schräglagengrip und Kurvenstabilität und besitzt im Trockenen ein sehr gutmütiges Grenzbereichsverhalten. Die Lenkpräzision ist allerdings nicht überragend. Außerdem gibt sich der Race Replica auf der ZX-10R nicht ganz so handlich wie der Metzeler Sportec oder Michelin Pilot Power. Dank
einer brillanten Haftung am Vorderrad lenkt der Dunlop bei Nässe sehr sicher
in Kurven ein, rutscht auf feuchtem Untergrund beim Beschleunigen und in lang gezogenen Bögen jedoch früh und abrupt übers Hinterrad.
Infos: www.dunlop.de
Test: METZELER Sportec M-1
Ebenfalls ein gelungener Spagat zwischen Straßen- und Rennstreckentauglichkeit. Außerdem wartet der Sportec mit sehr guten Eigenschaften bei Nässe auf: Sowohl die
Haftung im Grenzbereich als auch beim
Beschleunigen sind bei Regen sehr gut. Nur der Michelin Pilot Power ist
diesbezüglich noch ein bisschen besser. Im Trockenen vermittelt der Metzeler
mit seiner glasklaren Rückmeldung vom ersten Meter an volles Vertrauen.
Er ist über den gesamten Schräglagenbereich handlich, absolut neutral und
offeriert hohe Haftungsreserven. Dazu gesellt sich ein breiter Grenzbereich bei der Rennstreckenhatz ein echtes Sicherheitsplus.
Infos: www.metzelermoto.de
Test: MICHELIN Pilot Power
Ganz klar der beste Regentänzer. Der Pilot
Power verhält sich selbst im Dauerregen
absolut neutral und bringt die Power sicher auf den Boden. Bessere Kurvengeschwindigkeiten und Beschleunigungsresultate lassen sich im Nassen mit keinem Reifen erzielen. Aber auch im Trockenen gefällt
der Michelin durch neutrale Lenkpräzision sowie fantastischen Grip in den
Kurven und beim Beschleunigen. Das Handling ist sehr gut, den Grenzbereich kündigt der Pilot Power gutmütig an. Die Eigendämpfung ist befriedigend und wirkt der Kickback-Neigung der ZX-10R wesentlich stärker entgegen als beispielsweise der Pirelli Diablo.
Infos: www.michelin.de
Test: PIRELLI Diablo Corsa
Nässe ist garantiert nicht sein Ding. Denn
sobald es feucht wird, lässt die Haftung
des Diablo Corsa sehr zu wünschen übrig.
Sowohl in Kurven als auch beim Beschleunigen bei Regen ist der Grenzbereich sehr schmal. Im Trockenen dagegen bietet der Pirelli überraschend hohe Haftungsreserven in allen Fahrsituationen und ist absolut rennstreckentauglich. Das deutliche Aufstellmoment beim Bremsen in Schräglage und ein etwas zähes Handling sind die größten Nachteile des Reifens. Obwohl er für gelegentlichen Rennstreckeneinsatz durchaus zu empfehlen ist, müssen im Alltagsbetrieb
mit der ZX-10R klar Abstriche gemacht werden.
Infos: www.pirellimoto.de
Kasten Schwers, 33, Testfahrer - »Hobbyracers Traum
Es gibt ein Wort, das die Kawa am besten beschreibt: geil.
Der Motor ist der Hammer. Das Fahrwerk ebenfalls. Kürzester Radstand aller aktuellen 1000er-Supersportler, straffste Abstimmung, bestes Handling. Wheelies und Stoppies sind im Kaufpreis praktisch enthalten, durch
die wunderbar funktionierende
Anti-Hopping-Kupplung gelingen perfekte Drifts. Die ZX-10R ist was für Typen wie mich: die auf der Rennstrecke gern mal angasen und einem permanenten Spieltrieb frönen. Dazu noch die gelungene Farbgebung: schwarze Schwinge, schwarzer Rahmen, schwarze Felgen, grünes Kleid echt abgefahren.
Harald Humke, 49, geschäftsführender Redakteur - »Traum vom beherzten Gasanschlag
Mann oh Mann welch Gänsehaut. Die Erfahrungswerte
meiner letzten 30 Motorrad-
Jahre sind schlicht für die
Tonne. Beschleunigungs- und vor allem Bremspunkte müssen komplett neu gelernt werden Lichtgeschwindigkeit ist angesagt. Aber das ist der Spaß
wert. Kurz das Kabel spannen, und schon ist es allerhöchste Zeit, sich an die StVO zu erin-
nern das nenne ich souveräne Fahrleistungen. Und das Ganze dann noch sauber dosierbar
und dadurch sicher beherrschbar. Eine Frage bleibt jedoch:
Wie wird das erst, wenn ich
mich traue, den Gasgriff bis
zum Anschlag zu drehen?
Zubehör im Test
Die ausprobierten, extrem robusten Lenkerstummel »Tour-Match« von LSL (Telefon 02151/55590 oder www.lsl-motorradtechnik.de) sorgen bei der ZX-10R für einen Hauch Gemütlichkeit. Vor allem kleinere Fahrer lobten die zirka fünf Zentimeter höhere Griffmöglichkeit. Allerdings wird das Feedback fürs Vorderrad dadurch leicht verwässert. Rund vier Stunden sollte ein geübter Schrauber für den Anbau der 299 Euro teuren Teile einplanen, da auch die Bremsleitung getauscht werden muss. Manko: Die Griffe stoßen beim Einschlagen leicht
an die Verkleidung, Brems- und Kupplungshebel sind auf dem Lenkrohr nur eingeschränkt dreh- und damit in der Höhe einstellbar.
Für beruhigendes Fahrverhalten sorgten sowohl der siebenfach verstellbare Lenkungsdämpfer von LSL (289 Euro, Telefon siehe oben) als auch der 436 Euro teure RSC von Hyperpro (Telefon 07731/90670; www.mizu.de). Anbauzeit für beide: jeweils eine
halbe Stunde. Eine Verbesserung des Windschutzes brachte die 75,90 Euro teure Tourenscheibe von MRA (Telefon 07663/93890; www.mra.de), die in fünf Minuten montiert ist.
Fast zwei Stunden dauert die Montage der programmierbaren LED-Anzeige (139 Euro) und der elektronischen Ganganzeige (98 Euro) von Acumen (Telefon 03371/401440, www.ganganzeige.net). Während der LED-Drehzahlmesser mit integriertem Schaltblitz uneingeschränkt empfohlen werden kann, erwies sich die Ganganzeige als ungenau, speziell, wenn mehrere Gänge schnell hintereinander runtergeschaltet werden. Das Gerät berechnet den Gang aus den elektronisch übermittelten Daten von Raddrehzahl (Geschwindigkeit) und Motordrehzahl.