Um die Gegenwart zu verstehen, ist es mitunter notwendig oder wenigstens hilfreich, ein wenig in die Vergangenheit zu schauen. In diesem Fall blicken wir ins Jahr 2019, als die komplett neu entwickelte Mittelklasse-Reiseenduro Moto Guzzi V85 TT das Licht der Zweiradwelt erblickte und seitdem für einen bis dato nicht gekannten Ansturm auf das dünne Guzzi-Händlernetz sorgte. Dieses wird im Übrigen 2025 nochmals grobmaschiger, doch das ist eine andere Geschichte.
Erfolge der Moto Guzzi V85 TT
2019 und 2020 wurden vom Euro-4-Urmodell 812 und 982 Einheiten in Deutschland zugelassen; die leicht modifizierte Euro-5-Nachfolgerin ging 2021 und 2022 870- und 887-mal über den Tresen. 2023 gab es dann einen deutlichen Rückgang auf 626 Einheiten. Man könnte auch sagen, es bestand Handlungsbedarf, um die TT wieder attraktiver zu machen. Zumal zum 1. Januar 2025 die Abgasnorm Euro 5+, die unter anderem ein deutlich komplexeres On-Board-Diagnose-System (OBD II) erfordert, eingeführt wird, beschloss man bei Moto Guzzi, sich bei dieser Gelegenheit auch einem immer wieder geäußerten Kritikpunkt anzunehmen: dem vergleichsweise müden Antritt im unteren Drehzahlbereich bis rund 4.000/min, der gerade bei einem Tourenmotorrad eine gewisse Relevanz hat. Diese Aufgabe, das lässt sich nun mit Gewissheit sagen, wurde gelöst.
Technische Neuerungen der Moto Guzzi V85 TT
Die wichtigste Änderung gegenüber der Vorgängerin sind ganz klar die nunmehr variablen Steuerzeiten. Zusätzlich erlauben Klopfsensoren den jeweils frühestmöglichen, leistungsfördernden Zündzeitpunkt zu wählen. Auch soll minderwertiger Sprit nun ohne Klingeln verdaut werden können. Inwieweit die übrigen Euro-5+-relevanten Modifikationen zum neuen Charakter beigetragen haben, kann nicht eruiert werden und spielt keine Rolle. Motorisch künden allein die neu gestalteten Ventildeckel von der Moderne.
Auch die Auspuffkrümmer haben optisch sehr gewonnen, denn während bei der Alten die beiden Lambdasonden unübersehbar und nur bedingt ästhetisch mittig auf den Krümmern hocken, sind sie bei der Neuen deutlich weiter nach unten gewandert und fallen kaum noch auf. Der Sammler verfügt nun hinter dem Kat über eine dritte Lambdasonde, und der von der Farbe abgesehen unverändert scheinende Endtopf trägt teilweise differierende E-Kennzeichnungen. Ab Kolben abwärts bis hin zur Hinterachse blieb der Antriebsstrang ansonsten unverändert.
Wie funktioniert die variable Ventilsteuerung der V85?
Zunächst sei klargestellt, dass der Begriff "variable Steuerzeiten" an dieser Stelle einerseits wohl stimmt, andererseits aber zumindest verwirrt. Denn da die V85 nur über eine Nockenwelle verfügt, sind die Steuerzeiten der Ventile an sich, also Öffnungs- und Schließwinkel sowie die Überschneidungen der Ein- und Auslassventile, fix. Jedoch ist dieser Zyklus gegenüber der Kurbelwelle veränderbar. Die rein mechanisch wirkende Verstellung der Steuerzeiten funktioniert im Prinzip genauso wie der Variator eines stufenlosen Automatikgetriebes, wie es millionenfach in Scootern verbaut ist.
Sechs Stahlkugeln laufen in um 14 Grad von der radialen Richtung abweichend angeordneten Bahnen, die nach außen hin ansteigen. Sie werden durch einen federbelasteten, mit der Nockenwelle verbundenen Deckel bei niedrigen Drehzahlen in ihrer Ruheposition nahe der Drehachse gehalten. Mit steigender Drehzahl wächst die Fliehkraft und lässt die Kugeln bei 6.500/min nach außen wandern. Dadurch verändert der Deckel seine Position in axialer Richtung, und durch die oben beschriebene Geometrie verschieben sich die Steuerzeiten um den angegebenen Winkel in Bezug auf die Kurbelwelle.
Neuer Motor vs. alter Motor
Der Prüfstand bestätigt eindrücklich, was wir bereits bei der Präsentation der Euro-5+-Version Anfang dieses Jahres erlebten: Variabler Ventilsteuerung sei Dank, ist der 853-cm³-V2 deutlich bulliger und kräftiger geworden. Wohl ist der bei der Euro-5-Version eliminierte Volllast-Drehmomenthänger zwischen 2.500 und 3.000/min wieder zurück, doch spielt er in der Realität keine Rolle. Im Gegensatz dazu steht das stets spürbare Drehmomentplus von bis zu 10 Nm in dem im Alltag meistbenutzten Drehzahlbereich von 3.200 bis rund 5.500/min.. Der steile Drehmomentanstieg zwischen 2.900 und 4.000/min sowie das lange Plateau danach erlauben eine schaltfaule Fahrweise mit kräftigen Zwischensprints. Wenn die Alte da dranbleiben will, muss sie stets einen Gang niedriger gefahren werden. Besonders mit Sozius und/oder Gepäck ist die Neue klar im Vorteil.

Starker Drehmomentverlauf der neuen V85 TT mit den roten Linien, was sich kaum auf die Spitzenwerte auswirkt, ist im mittleren Drehzahlbereich überdeutlich: Die neue drückt fast 10 Nm mehr!
Designänderungen der Moto Guzzi V85 TT
Beim aktuellen 2024er-Jahrgang wurden die Tankcover und Seitendeckel neu gezeichnet, und die charakteristischen Rohrkonstruktionen von Gepäck- und Lampenmaskenträger wichen optisch eher unscheinbaren, dafür leichteren (vorne/hinten minus 0,7/1,1 Kilogramm) Aluminiumguss-Konstruktionen. Wobei sich beim Träger hinten aufgrund der deutlich größeren Querschnitte Spanngummis nur schlecht einhaken lassen. Auch der Unterbau der nach wie vor langstreckentauglichen Sitzbank wurde modifiziert. Was zur Folge hat, dass die Bank der Neuen, wenngleich wackelnd, auf die Alte passt. Umgekehrt klappt das nicht, weil da ein paar Kunststoffnasen im Weg sind.
Verbesserungen bei der Ergonomie und Bedienung der Moto Guzzi V85 TT
Unübersehbar und ein echter Fortschritt sind die neuen, von der Schwester V 100 übernommenen Lenkerarmaturen sowie das Fünf-Zoll-TFT-Cockpit, welches sich nach ganz kurzer Eingewöhnung intuitiv mittels (nicht hinterleuchtetem) Steuerkreuz bedienen lässt. Kleines Schmankerl am Rande: Wenn der serienmäßige Tempomat nicht aktiv ist, lassen sich über seinen Schalter die Modi (Rain, Street, Sport, Offroad und optional ein nicht näher beschriebener Custom-Mode) quasi direkt bedienen. In allen Modi lässt sich die Traktionskontrolle (TC) dauerhaft deaktivieren, im Offroad-Modus ist das hintere ABS per se deaktiviert.
Bei Bedarf lässt sich das auch vorn einrichten, dies muss aber nach jedem Neustart neu geschehen. Der Sicherheit wegen. Generell ist das ABS dank Sechs-Achsen-IMU kurventauglich. Die vorderen Bremsscheiben zeigen minimale Unterschiede im Lochbild und der Trägerplatte, vermutlich stammen die Scheiben von unterschiedlichen Zulieferern. Davon abgesehen ist die Bremsanlage bei neu und alt identisch, dito ihre unter allen Bedingungen nicht nur für eine Reiseenduro absolut tolle Performance. Überhaupt nicht toll dagegen ist die bei beiden identische sogenannte Hupe, deren jämmerliches Fiepen einem ausgewachsenen Motorrad nicht würdig ist. Einem Italienischen gleich gar nicht.
Verbesserte Aerodynamik der Moto Guzzi V85 TT
Dafür wurde bei der Verbesserung der Aerodynamik viel Aufwand betrieben. Bei der 2024er wuchs der Windschild deutlich in Höhe und Breite, zudem ist er ohne Werkzeug einhändig in fünf Positionen um insgesamt 70 Millimeter verschiebbar. Bei den Vorgängerinnen kann nur der Anstellwinkel des Schilds mittels Inbusschlüssel verändert werden. Zusätzlich sorgen das neu gestaltete Tankcover sowie kleine Deflektoren unterhalb des Scheinwerfers für eine geordnete Luftströmung um den Fahrer herum. Insgesamt sollen die Turbulenzen um ein Drittel, am Helm des Fahrers gar um die Hälfte gesunken sein. Doch grau, mein Freund, ist alle Theorie! Für den Südländer mit dortiger Standard-Ergonomie mag das alles zutreffen. Doch der 1,86 Meter messende Autor dieser Zeilen ist auf der alten TT zwar insgesamt stärker belüftet, dafür turbulenzfreier untergebracht. Bei der neuen muss der Schild zwingend in die höchste Position, soll sich nicht konstant ab etwa 90 km/h das Helmvisier selbstständig schließen. Möglicherweise hat dieses Verhalten auch mit dem rund 20 Millimeter höher bauenden Lenker zu tun, der zudem noch weiter nach vorn gedreht ist, worauf die Höhe der Griffgummis um gut 45 Millimeter ansteigt. Weswegen man auf der neuen TT mit weiter ausgestellten Ellenbogen etwas fahraktiver, enduresker untergebracht ist. Das gefällt nicht jedem, dem Autor taugt’s. Letztlich eine Gewöhnungs- bzw. Geschmacksfrage.
Vergleich der Moto Guzzi V85 TT mit dem Vorgängermodell
Definitiv keine Geschmacksfrage ist, wie sich die Neue bei der gemeinsamen Ausfahrt mit ihrer älteren Schwester in Szene setzt. Da beide auf gut harmonierenden, aber sehr laut abrollenden Reifen stehen und das Fahrwerk bis auf die nunmehr via Handrad einstellbare hintere Federvorspannung unverändert blieb, blieben nennenswerte Unterschiede bei nach wie vor ebenso agilen wie gutmütigen und ausgewogenen Fahreigenschaften aus. Dass die Alte einen Tick mehr Impuls zum Einlenken braucht, dürfte an den bereits rund 4.000 Kilometer gelaufenen Reifen liegen und ist nach wenigen Kurven verinnerlicht.
Das neue Fahrgefühl der Moto Guzzi V85 TT
Auf der anderen Seite verinnerlicht man sehr schnell die gewonnene Souveränität der Neuen. Viel überzeugender als die nackten Zahlen ist der direkte Vergleich des Durchzugs. Egal ob vierter, fünfter oder sechster Gang, wenn man nebeneinanderfahrend auf Zeichen gleichzeitig Vollgas gibt, fährt die Neue uneinholbar davon. Je nachdem, wann der nächste Bremspunkt ansteht, werden aus zwei, drei Fahrzeuglängen schnell sieben oder acht oder noch mehr. Die Neue scheint einen Tick härter zu laufen, was für das Arbeiten an der Klopfgrenze spricht, bezüglich Geräuschentwicklung und Vibrationen unter Last gibt es erwartungsgemäß keine Unterschiede.
Eher schon überrascht die Tatsache, dass die Alte bei der gemeinsam absolvierten, an Höhenmetern nicht eben armen Verbrauchsrunde mit 4,0 Liter sogar um zwei Zehntel sparsamer war als die Neue. Wer es darauf anlegt, kann auch die Drei vor dem Komma schaffen, ohne zum Verkehrshindernis zu werden.
Moto Guzzi V85 TT (2024) | Moto Guzzi V85 TT (2021) | |
Motor | 2, V-Motor | 2, V-Motor |
Leistung | 58,0 kW / 80,0 PS bei 7.750 U/min | 56,0 kW / 76,0 PS bei 7.500 U/min |
Hubraum | 853 cm³ | 853 cm³ |
Sitzhöhe | 830 mm | 830 mm |
Grundpreis | 13.499 € | 12.290 € |