Auch wenn man es schon x-fach gelesen hat, muss diese Thematik zumindest kurz angerissen werden: Während in westlich orientierten Kulturkreisen das mehr oder weniger ungenierte Nachbauen bereits vorhandener Produkte äußert negativ belegt ist, sieht die Sache in China/Südostasien ganz anders aus. Dort gilt ein Nachbau als Verbeugung vor dem Original, denn wer würde schon ein schlechtes Produkt kopieren? Und nebenbei spart man sich praktischerweise auch den Entwicklungsaufwand.
Voge DS 900 X mit enormer Serienausstattung
Voge ist die Edelmarke von Loncin, also jenes erst 1993 gegründeten Konzerns, der mittlerweile in China als Marktführer gilt. Und als Kooperationspartner von BMW die 850er- und 900er-Twins fertigt. So wundert es nur mäßig, dass die Voge DS 900 X nicht nur von Weitem der BMW F 900 GS sehr stark ähnelt, Motor und Fahrwerk sollen dem Vernehmen nach sogar identisch sein. Eine nähere Betrachtung der beiden Modelle widerspricht dieser These nicht.
Bei der Voge fällt ihre enorme Serienausstattung auf. Features wie Anti-Hopping-Kupplung, Connectivity, diverse Fahrmodi, Quickshifter oder Traktionskontrolle sind ohnehin gesetzt. Leider ist der Ausleger des Hauptständers etwas unglücklich platziert, denn er ist mit ordnungsgemäßem Schuhwerk kaum zu erreichen.
Totwinkelassistent und Frontkamera
Und weiter geht’s, nachstehend ein Auszug aus der längst nicht vollständigen Liste: Tempomat, Reifendruck- und Temperatur
anzeige, Griff- und Sitzheizung (jeweils mit Grillfunktion in der höchsten Stufe), Nebelscheinwerfer, die sich bei laufendem Motor und aktiviertem Blinker als Abbiegelicht betätigen. Obendrein gibt es bei der Voge DS 900 X einen Totwinkelassistenten in den Rückspiegeln sowie eine Funktion, die den Hintermann durch aktivierten Warnblinker und blinkendes Bremslicht darauf aufmerksam macht, dass er jetzt nun wirklich dicht genug aufgefahren ist und etliches mehr.Gewissermaßen die Kirsche auf der Sahne ist eine per Knopfdruck in der rechten Lenkerarmatur zu aktivierende Frontkamera. Derzeit ist die Funktion deaktiviert, der Importeur klärt die Gesetzeslage ab, ob und wie die Kamera aktiviert werden darf. Die Daten würden dann auf einer eigens einzusteckenden SD-Karte gespeichert.
Sitzposition auf der Suzuki aktiver
Im Vergleich erscheint die Suzuki V-Strom 800 DE beinahe nackig. Auch wirken ihre matten Verkleidungsteile nicht so wertig wie die tiefglänzenden, passgenauen Pendants der Voge. Bei beiden sind die Aufkleber nicht überlackiert. Insgesamt macht die Voge beim ersten Umrunden einen guten Eindruck, wenn man vom billig wirkenden Gepäckträger und Sturzbügel absieht.
Aber wir wollen ja nicht nur schauen, sondern auch fahren. Auf der V-Strom sitzt man im Vergleich zur DS deutlich aktiver, nicht ganz so tief im Motorrad. Der Lenker der Voge DS 900 X ragt hoch auf und liegt nah am Fahrer, was zu einer, sagen wir, sehr touristischen Sitzposition führt. Bei der Voge sind beide Handhebel einstellbar, bei der Suzuki nur der rechte. Der linke ist fix und benötigt eine höhere Handkraft, dafür ist die Dosierbarkeit besser.
Beide Twins starten problemlos, und während von der Suzuki außer dem sehr ruhigen Auspuffgeräusch nichts weiter zu hören ist, leerläuft die Voge deutlich vernehmlicher und produziert obendrein diverse Nebengeräusche wie Tickern und Sirren. Das ändert sich auch beim Fahren nicht, generell läuft die Chinesin deutlich rauer und rappeliger als ihre japanische Konkurrentin. Übrigens hat auch ihre (mutmaßliche) Motorspenderin BMW F 900 GS feinere Manieren, wie Cheftester Karsten Schwers bestätigt, saß er doch kurz vor den Messfahrten mit der Voge beim Alpen-Masters auf besagter BMW.
Präzise arbeitende Schaltbox der V-Strom
Beim Getriebe setzt sich dieser Eindruck fort. Die Suzuki-Schaltbox arbeitet sehr präzise und exakt, sodass man auf die ebenfalls top funktionierende Quickshifter-Blibber-Kombi locker verzichten könnte. Dieses hohe Niveau wird von der Voge DS 900 X nicht erreicht, ihr Getriebe fühlt sich etwas holzig an, auch sind die Schaltwege etwas länger. Und der Quickshifter braucht deutlich mehr Last und Drehzahl, um ruckfrei zu funktionieren. Ähnliches gilt auch für die diversen Mappings. Die Suzuki V-Strom 800 DE hat drei, DX sogar vier, wobei sich bei ihr nur im Enduro-Mode die Traktionskontrolle deaktivieren lässt.
Wie man es nun dreht und wendet, es bleibt dabei: die Suzuki wirkt (nicht nur) in diesem Punkt ausgereifter, fertiger. Sie hängt besser am Gas, lässt sich feiner dosieren, und sie hat vor allem nicht die besonders im Rain-Modus ausgeprägte Anfahrschwäche, die bis ca. 3.000/min anhält. Das heißt jetzt nicht, dass die Voge unfahrbar wäre, aber die Unterschiede sind schon spürbar.
Suzuki V-Strom 800 DE — komfortabel abgestimmtes Fahrwerk
Nämliches gilt auch für die Bremse. Die Voge DS 900 X macht einen guten Job, die Suzuki einen besseren. Egal, ob Wirkung, Handkraft, Dosierbarkeit, Rückmeldung oder ABS-Regelverhalten, die Gelbe kann es immer einen Tick besser. Wobei beide im ABS-Regelbereich, egal ob mit oder ohne Sozius, bockstabil und ohne Stoppie-Gefahr dem Stillstand entgegenstreben. Der Hintermann übrigens sitzt auf der Silbernen etwas bequemer und hat auch mehr Platz, dafür sind die Haltegriffe spirrelig. Der Vordermann hingegen erfreut sich auf der Voge dank des deutlich größeren, zudem easy zweifach verstellbaren Schilds eines besseren Windschutzes.
Bei der Fahrwerksabstimmung verfolgen die beiden Gravel-Travel-Bikes unterschiedliche Strategien. Die Suzuki V-Strom 800 DE ist eher komfortabel ausgelegt, die Voge eher straff, und so war bei beiden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, auf schlechten Wegstrecken immer viel Bewegung im Fahrwerk. Bei der Gelben ließ sich durch Erhöhen der Dämpfung das Geschaukel im selben Maße verringern wie bei der Blauen durch Verringern derselben das Ansprechverhalten auf kleine Unebenheiten verbessern. Am Ende also Gleichstand bzw. eine Frage des persönlichen Geschmacks – was einem mehr liegt.
Voge DS 900 X: stabil in Schräglagen
Unabhängig von Geschmacksfragen gibt sich die Suzuki V-Strom 800 DE willig im Winkelwerk, lenkt locker ein und folgt freudig dem Kurvenverlauf. Bei der Voge braucht es etwas mehr Impuls zum Einlenken. Besonders in schnellen Wechselkurven versteift sich die Lenkung spürbar, dann braucht es klare Ansagen am Lenker. Die Ursache für dieses Verhalten dürfte in den 17 Kilogramm Mehrgewicht liegen, zudem hat sie (serienmäßig, was sonst?) einen Lenkungsdämpfer. Dafür liegt sie in Schräglage satt und stabil und hat zudem etwas mehr Luft unter den Fußrasten.
All in all darf man der Voge DS 900 X attestieren, dass sie das bislang beste Bike einer chinesischen Marke ist, das wir in der Redaktion hatten. Das Grundkonzept passt, aber es fehlt eben hier und da am Feintuning. Mit dem Stand von Elektronik, Fahrwerksabstimmung und mechanischer Geschmeidigkeit kann man zwar grundsätzlich leben, die Benchmark liegt aber derzeit noch woanders. Dass dies wohl nicht auf ewig so bleiben wird, sieht man, wenn man sich die Entwicklung von vor zehn Jahren bis heute anschaut. Heute schon top ist die Ausstattung. Bleibt dann nur noch die Sache mit dem Copyright. Das ist und bleibt Ansichtssache.
Suzuki V-Strom 800 DE (2023) | Voge DS 900 X (2024) | |
Motor | 2, Reihenmotor | 2, Reihenmotor |
Leistung | 62,0 kW / 84,0 PS bei 8.500 U/min | 70,0 kW / 95,0 PS bei 8.250 U/min |
Hubraum | 776 cm³ | 895 cm³ |
Sitzhöhe | 855 mm | 850 mm |
Grundpreis | 11.500 € | 9.499 € |