Niemand irrt mehr, der denkt, Harleys wären 2024 nur teuer, veraltet und bloß für gerade Strecken gebaut. All das wäre richtig, lebte man noch Anfang des neuen Jahrtausends. Doch als Harley-Davidson 2016 den Milwaukee-Eight-Motor als 9. Big-Twin-Generation präsentierte, stellte die Company ihre schweren Maschinen auf modern um. Die für 2024 neue Street Glide und Road Glide unterstreichen das dick.
Große Zahlen bei Harley-Davidson
Wichtigste Kennziffer einer Harley-Davidson ist der Hubraum, und der Blick auf den Luftfilter der beiden neuen Bagger der "Grand America Touring"-Familie zeigt eine 117. Das ist der Hubraum in Kubikzoll (ci/cui), was 1.923 Kubikzentimetern entspricht. Die Bohrung von jeweils 103,5 Millimeter und der Hub von jeweils 114,3 Millimeter erzeugen 175 Nm bei 3.500/min. Die für das Konzept im Grunde irrelevante Leistung liegt bei 5.020 Touren in Höhe von dennoch bemerkenswerten 109 PS an. Genug Kraft und Leistung, um die Gewichte von 368 Kilogramm der Street Glide und 380 Kilogramm der Road Glide unabhängig von Gang und Geschwindigkeit schwungvoll zu bewegen.
Big Twin mit 175 Nm Drehmoment
Der überarbeitete V2 von Harley-Davidson bekam neue Zylinderköpfe mit einer neuen Ansaugbrücke, etwas mehr Verdichtung und ist der erste Harley-V2 mit dem neuen, deutlich kleineren Wasserkühlsystem für die Auslassventile. Langhub sei Dank: Ab 1.500 Touren reagiert der V2 wohlwollend auf Marschbefehle, fühlt sich ab 2.000/min sehr wohl, wird ab 4.000 Touren – man wagt es kaum zu schreiben – drehfreudig und läuft bei 5.500 Touren sanft in den Begrenzer. Im echten Leben dreht man selten über 3.000 Touren. Das Getriebe bewahrt den rustikalen Charme eines Traktors, mit langen Schaltwegen, die immer ihren Gang klangvoll treffen. In Summe beeindruckt Harley zu welcher Güte die Motoren reiften und welche Leistung die riesigen Motoren mittlerweile erreichen.
V2-Sound mit weniger Dezibel
Sound: bassig, gedämmt, präsent, mit 90 db(A) Standgeräusch – das scheint neuerdings vielen wichtig zu sein. Interessant: Das viel wichtigere Fahrgeräusch bleibt mit 75 db(A) deutlich unter der Grenze von 77 db(A). Ebenso bemerkenswert ist der Unterschied der Fahrmodi auf das Ansprechverhalten des V2. Rain, Road, Sport und Custom stehen zur Wahl. Im drehmomentgesenkten Rain-Mode fühlt der Motor sich erwartbar müde an. Im Modus Road hängt er sanft und stark am Gas. Der Sport-Modus fördert eine kaum geahnte Spritzigkeit zum Vorschein, die gekonnt an der Grenze zur Nervosität tänzelt.
31 Zentimeter Display mit Touchscreen
Noch eine große Zahl der beiden neuen Harley-Davidson Street Glide und Road Glide ist 31,2. Die Zahl in Zentimeter steht vor dem Wort Bildschirmdiagonale des Skyline OS genannten Infotainment-Systems. Es bildet das digitale Cockpit, das Karten-Navi, den Mediahub und die Kommunikationszentrale der Tourer ab und versorgt die serienmäßigen beiden Lautsprecher und ihre 200 Watt Verstärkerleistung. Eine Sprachsteuerung, Touchscreen mit Handschuh und Fernbedienung am Lenker stellen die 3 möglichen Bedienmöglichkeiten dar.
Das saubere und treffsichere Bedienen der Logik benötigt ein paar Stunden, ist dann allerdings selbsterklärend und dank großer Icons sicher. Das Booten nach dem Start dauert etwas, im Anschluss sind die Rechenzeiten angemessen. Gut: Das Verbinden mit dem Smartphone geht schnell, und das Streamen von Musik geht fast automatisch. Geparkt und geladen werden kann das Telefon in gepolsterten Fächern in der Verkleidung. Der Sound der beiden Boxen in der Verkleidung ist satt. Zwar etwas dumpf, aber bekömmlich.
So fährt die neue Street Glide 117
Die neue Harley-Davidson Street Glide 117 ist das erste Modell der Company mit Koffern und Verkleidung aus der Familie Grand America Touring. Neben dem größeren Motor reicht Harley-Davidson die neue, lenkerfeste Verkleidung und das kantigere Design der CVO Street Glide 2023 hinunter zur "günstigeren" Modellreihe. Das Design ist moderner als die bekannte Bat-Wing, mit schickem Kajal-Strich in LED als Verlängerung des LED-Scheinwerfers. Harley-Davidson würde hier gerne lesen, die LED-Form, die sich von den Seiten unter den Scheinwerfer schlängelt, hätte die Form eines Omega, den letzten Buchstaben des griechischen Alphabets, was konträr zum Ansatz des Beginns einer neuen Ära steht. Egal.
Fahrwerk für entspanntes Gleiten
Machen wir es kurz: Das bekannte Chassis mit neuen Federbeinen und frisch abgestimmter Gabel ist den schlechten Straßen der Provence im Hinterland Marseilles selten gewachsen. Passend dazu die wie üblich auf Laufleistung optimierten Reifen (Dunlop D 408 vorn/ D 407 hinten), die dem eigentlich relativ handlichen Krad ein stumpfes Gefühl verleihen und gerade in Kurven mit sich ändernder Geschwindigkeit beginnen zu untersteuern. Der niedrigere Lenker, der eine inaktive Fahrposition erzwingt, trägt zum tauben Gefühl für das Motorrad bei. Solange es durch zackige Kurven geht. In flotten Passagen mit langen Kurven und sauberem Asphalt erfolgt der Auftritt des Worts Glide in Street Glide. Dann gleitet die Harley entspannt, komfortabel und bei Bedarf mit erstaunlich hoher Geschwindigkeit souverän durch die Lande. Toll. Fahrern unter 1,80 Meter bietet die knappe Bat-Wing dann einigen Windschutz. Stark: die von vorn und der Seite fast unsichtbaren Verkleidungsspiegel.
So fährt die neue Road Glide 117
Die neue Harley-Davidson Road Glide unterscheidet sich technisch nicht von der Street Gilde. Einzig 3 Millimeter mehr Nachlauf auf 173 Millimeter erkennt das Auge auf den Datenblättern. Wohl ein Tribut an die rahmenfeste Verkleidung im ebenfalls neuen Shark-Nose-Design der CVO Road Glide. Dito das Plus an Gewicht von 12 Kilo, von denen 11 komplett auf der Front des Kraftrads lasten. Auffällig und fahrdynamisch maßgebend: Der Lenker der Road Glide ist bagger-artig hoch, reicht sogar höher als die Verkleidung, was das Sitzen zusammen mit den um 5 auf 720 Millimeter Sitzhöhe im Vergleich zur dünner gepolsterten Street Glide ändert. Durch den hohen Lenker und die höhere Sitzbank strafft sich die Fahrposition in Richtung aktiv. So kommt in den engen Passagen der Provence Fahrspaß auf, das Gefühl für das Motorrad wächst, ohne die suboptimale Reifenkombination kaschieren zu können.
Windschutz und Vorspannung
Durch den breiten Bau der Shark-Nose ist der Windschutz zudem einen Tick besser. Wirkungsvoll: die zweifach einstellbare Vorspannung der neuen Federbeine mit 76 Millimeter Federweg. Ein Federbein hat eine grobe mechanische Einstellung mit Werkzeug für die Grundabstimmung, am linken Federbein erfolgt das Feinjustieren per Hydraulik. Das Anheben beider Werte steigert das Fahrerlebnis und, in der Provence wichtig, den Durchschlagschutz in Richtung der Bandscheiben. Ganz frei von Bewegung wird das Fahrwerk nie, egal, ob Road oder Street vor dem Glide steht.
Kaufberatung: Road Glide oder Street Glide?
Harley-Davidson zeichnet die neue Street Glide und Road Glide mit 31.845 Euro exakt gleich aus. Der Preis entscheidet also nicht direkt. Optisch ist die neue Shark-Nose weniger aggressiv gestaltet, die Bat-Wing der Street Glide hingegen je nach Blickwinkel etwas mehr. Beiden gemein: Vom alten, leicht staubigen Design übernehmen sie nur die Filetstücke, die Beilagen sind mit mehr Kante neu angerichtet. Technisch unterscheiden sich beide Modelle nicht. Sie sind gleich stark, fahren sich gleich und bieten die gleichen Features. Den Ausschlag könnten die sehr unterschiedlichen Sitz- und Fahrpositionen geben.
Mehr oder weniger Glide, Farben und Preise 2024
Die Street Glide mit mondänem Charme und passiver Sitzposition, mit den Händen auf Brusthöhe, nimmt Bezug zum Fahrer und betont das Glide, das Gleiten. Die Road Glide mit dem hohen Lenker und leicht höherer Sitzbank bezieht den Fahrer aktiv in das Fahren ein, betont das Road mehr als das Glide. Sprich: Street Glide für die Genießer, Road Glide für etwas dynamischere Freude am Fahren. Tipp: Beliebteste Fahrkombination der Test-Entourage in Frankreich war: "Onyx White Pearl" mit "Blackout Finish". Also Weiß mit Antrieb, Lenker und Auspuff in Schwarz. Das kostet allerdings Aufpreis: das Weiß 595 Euro, das Schwarz 1.535 Euro.