Drei Voraussetzungen waren nötig, um die KTM-Verantwortlichen auf die Idee der 350 SX-F zu bringen. Erstens die Erkenntnis, dass in der Motocross-WM die Rundenzeiten der MX2-Klasse (250 cm³) und der MX1-Kategorie (450 cm³) mittlerweile auf ähnlichem Niveau liegen. Zweitens die Folgerung, dass die logische Konsequenz aus einem für viele Piloten übermotorisierten MX1-Crosser und einem handlichen, aber drehzahlbedürftigen MX2-Bike eine Maschine mit 350 cm³ Hubraum sein müsste. Und drittens die Tatsache, dass das technische Reglement, das in der MX1-Liga einen Hubraum zwischen 290 und 450 cm³ vorschreibt, das 350er-Konzept in dieser Königsklasse zulassen würde.
Die Beweisführung gelang auf Anhieb. Mit der 350-cm³-Werksmaschine führt der Italiener Toni Cairoli die aktuelle MX1-WM gegen die Armada der 450er-Bikes an. Seit kurzem stellt nun auch die Serien-Version der KTM 350 SX-F Otto Normalcrosser vor eine Grundsatzentscheidung. Vereint der Mittelklasse-Renner wirklich die Vorteile beider Hubraumkategorien und vermeidet gleichzeitig deren Nachteile? Eine Frage, welche die KTM im Vergleich mit den beiden Klassensiegern der diesjährigen Motocross-Vergleichstests von MOTORRAD, der Suzuki RM-Z 250 und der Honda CRF 450 R beantworten muss.
Auf drei verschiedenen Strecken und einheitlichen Reifen (Bridgestone M 403/404) muss der Neuling seine Stärken in den Kriterien, an denen dieses Konzept gemessen wird (Durchzug, Drehfreude, Spitzenleistung, Handling, Sprintqualitäten beim Start) unter Beweis stellen. Und auch die neue Hinterradfederung mit Umlenkung muss Farbe bekennen. Es kann losgehen.

STARTEN
Ein dicker Pluspunkt für die KTM. Der serienmäßige Elektrostarter schont beim versehentlichen Ausbremsen oder bei Ausrutschern Nerven und Kondition. Die 1,5 Kilogramm Mehrgewicht (E-Starter plus Batterie) akzeptiert man in den Sekunden der Not gerne. Es verwundert, dass sämtliche japanische Crosser diese Chance noch immer vergeben.
DURCHZUG
Eins vorweg: Die batterielose Benzineinspritzung von Keihin, die sich mittlerweile bei allen japanischen Herstellern quasi zur Einheits-Gemischaufbereitung gemausert hat, funktioniert auch in der KTM problemlos. Exzellentes Startverhalten, kein Verschlucken beim Gasaufreißen oder nach Sprüngen - mit diesen Qualitäten brilliert auch das österreichische Aggregat.
Und wie schiebt die 350er aus den Kurven an? Der Druck setzt deutlich früher ein als bei einer 250er, aber dennoch sanfter als bei einer 450er. In der Blindverkostung würde man auf einen außergewöhnlich leicht beherrschbaren 450-cm³-Motor setzen. Das hat Vorteile. Während der Suzuki-Pilot grundsätzlich nach der Spur mit genügend Schwung sucht, der Honda-Treiber zumindest auf hartem Terrain nach der griffigsten Linie Ausschau hält, bleibt dem 350er-Dompteur die freie Wahl. Vor allem die in der Beschleunigungsphase fahrerisch oft schwierige, dafür aber kürzere Innenlinie dürfte dank der hervorragenden Dosierbarkeit der Leistung zur ersten Wahl des SX-F-Piloten avancieren. Nur im Sand bleibt die CRF in Sachen Traktion auf Augenhöhe mit der KTM, kann sie im tiefen Geläuf sogar leicht distanzieren. Dennoch: Wenn ein Aspekt den versprochenen perfekten Kompromiss der 350er-KTM dokumentiert, dann diese beeindruckende Traktion, welche die KTM auf jedem Terrain leichter beherrschbar und - vor allem bei nachlassender Kondition - deutlich effizienter macht als die beiden traditionellen Hubraumgrößen. Allerdings täuscht der früh einsetzende, gutmütige Schub der 350er über eines hinweg: Für schnelle Rundenzeiten will die KTM gedreht werden. Den entscheidenden Punch dafür entwickelt der Single erst ab dem mittleren Drehzahlbereich. Dann jedoch gewaltig.

DREHFREUDE UND SPITZENLEISTUNG
Mit einer Maximaldrehzahl von 12800/min (Maximaldrehzahl RM-Z 250: 13300/min) stößt die SX-F nicht nur in bislang 250er-Motoren vorbehaltenen Drehzahlregionen vor, sondern zieht gleichzeitig in Sachen Spitzenleistung an der CRF 450 R vorbei. Mit gemessenen 52 PS (Honda CRF 450 R: 49 PS) überzeugt die KTM selbst Skeptiker auf der ganzen Linie. Zudem erlaubt es diese enorme Drehzahlreserve regelmäßig, vor allem auf Zwischengeraden auf einen Gangwechsel zu verzichten, während die vergleichsweise spät einsetzende Suzuki und die recht früh ihren Leistungszenit erreichende Honda fast immer einen zusätzlichen Schaltvorgang benötigen. Die Begeisterung über dieses sensationell breite nutzbare Drehzahlband trübte allerdings zunächst ein bei höheren Touren unangenehm rau laufender Motor. Eine zum Vergleich gegengefahrene Kundenmaschine zeigte das gleiche Phänomen. Erst als dem Test-Bike im Werk eine Kurbelwelle mit feinerer Auswuchtung implantiert wurde, benahm sich die SX-F wohlanständig. In der Serienproduktion will KTM mit verbesserter Qualitätskontrolle in dieser Beziehung Abhilfe schaffen.

HANDLING
Man kennt das: 250er-Crosser fühlen sich um Welten leichter an als ihre 450er-Schwestermodelle. Was macht den Unterschied? Am Gesamtgewicht (Suzuki: 102 Kilogramm, Honda: 105, KTM: 106) kann es kaum liegen. Entscheidender sind die rotierenden Massen, insbesondere die der Kurbelwelle (Suzuki: 2810 Gramm, KTM: 3490, Honda: 4030). Verständlich, dass die Suzuki daher in Sachen Handling den Ton angibt. Im Vergleich mit der spielerischen Leichtigkeit der RM-Z 250 verliert sogar die grundsätzlich ebenfalls recht handliche Honda deutlich an Boden. Und die KTM? Quetscht sich auf hohem Niveau mit unauffälligem Handling genau zwischen die 250er- und 450er. Allerdings mit einer Einschränkung: In engen Kehren neigt die Front zum Untersteuern, schiebt zur Kurvenaußenseite. Zumindest im Serientrimm erreicht die Lenkpräzision der KTM nicht das Niveau der Suzuki oder Honda. Ein angehobenes Heck (Negativfederweg mit Fahrer: 95 Millimeter) und tiefer in die Gabelbrücken gesteckte Gabelholme (zwei Ringe sichtbar) lindern zwar diese Tendenz, verleihen der SX-F aber dennoch nicht das von bisherigen KTM-Modellen gewohnte messerscharfe Lenkverhalten.
FEDERUNG
Apropos bisherige Modelle. Verlangte das bislang verbaute, direkt angelenkte PDS-Federbein stets nach einem aktiven Piloten, reagiert das neue System wesentlich komfortabler. Sensibel schluckt der Monoshock kleine Wellen, bügelt harte Kanten weitestgehend glatt und hält das Heck vor allem auch bei so manchem Fahrfehler gutmütig unter Kontrolle. Auch das war man von den bisherigen KTM-Crossern nicht gewohnt.
Und es bestätigt, dass sich die KTM 350 SX-F längst nicht nur auf den Hubraum der goldenen Mitte reduzieren lässt, sondern das Resultat der Suche nach einem neuen Gesamtkonzept der Crosser aus Mattighofen ist - einem weitgehend geglückten.
FAZIT

Mit der 350 SX-F ist KTM beim Vorhaben, die Vorzüge zweier Hubraumkategorien zu verbinden, zumindest mit dem Motor ein Start-Ziel-Sieg gelungen. Ansprechverhalten, Drehfreude und Spitzenleistung kombinieren in der Tat das Beste aus beiden Welten. Addiert man zu dieser Komponente noch die neue, sensiblere Hinterradfederung und das gutmütige Fahrverhalten, beweist dieses neue Konzept allerdings mehr: eine generelle Neuorientierung bei den KTM-Crossern.
Messwerte

Hut ab: Dass die 350er-KTM mit sage und schreibe 52 PS sogar die 450er-Honda leistungsmäßig in den Schatten stellt, erstaunt selbst die Fachwelt. Dennoch: Beim Drehmoment schlägt sich der größere Hubraum der Honda nieder. Ein Vorteil, den die CRF gerade beim Start umzusetzen weiß.
Ein gelungener Start ist der halbe Sieg, sagt der Rennfahrer-Volksmund - und hat damit Recht. Dass die 350er gegenüber den 450er-Maschinen im Sprint unterlegen sein könnte, diesen Zweifel zerstreute Toni Cairoli bereits mit einigen Start-Ziel-Siegen. Doch wie steht es um die Sprintqualitäten abseits von Reaktionszeiten und dem Mut zu späten Bremspunkten? MOTORRAD machte die Probe. Die Versuchsanordnung: griffiger, sandiger Untergrund, Länge der Startgerade 60 Meter, Aufzeichnung der Messwerte über GPS-gestütztes Datarecording.
Die Resultate sind eindeutig. Die 450er-Honda setzt sich bereits vor der 30-Meter-Marke deutlich ab, distanziert die 350 SX-F bis zum Bremspunkt bei 60 Metern um immerhin 3,4 Meter. Der Grund dürfte im höheren Drehmoment des 450er-Motors im Bereich bis zu 7000/min (siehe Diagramm) zu suchen sein, das der Honda - gefühlvollen Kupplungseinsatz vorausgesetzt - aus dem Stand heraus einen Vorsprung ermöglicht.
Beschleunigung bis 60 m
30 m | 60m | |
Honda CRF 450 R | 68,73 km/h | 90,81 km/h | KTM SX-F 350 | 64,4 km/h | 84,64 km/h |
Suzuki RM-Z 250 | 62,0 km/h | 76,48 km/h |

Suzuki RM-Z 250
Motor | |
Wassergekühlter Einzylinder-dohc-Viertaktmotor mit vier Ventilen pro Zylinder | |
Hubraum (in cm3) | 249 |
Bohrung x Hub (in mm) | 77 x 53,6 | Verdichtung | 13,5 |
Leistung* | 29,2 kW (40 PS) | bei Drehzahl (in /min)* | 12600 |
Vergaser/Einspritzung, | Einspritzung | Durchmesser (in mm) | 43 |
Gänge | 5 |
Fahrwerk | |
Brückenrahmen aus Aluminium | |
Gabel | Showa |
Gleitrohrdurchmesser (in mm) | 47 | Federbein | Showa |
Gewicht (in kg)* | 102 | Preis ohne Nebenkosten (in Euro) | 7190 |

KTM 350 SX-F
Motor | |
Wassergekühlter Einzylinder-dohc-Viertaktmotor mit vier Ventilen pro Zylinder | |
Hubraum (in cm3) | 350 |
Bohrung x Hub (in mm) | 88 x 57,5 | Verdichtung | 13,5 |
Leistung* | 38,0 kW (52 PS) | bei Drehzahl (in /min)* | 12600 |
Vergaser/Einspritzung, | Einspritzung | Durchmesser (in mm) | 42 |
Gänge | 5 |
Fahrwerk | |
Einschleifenrahmen aus Stahlrohr | |
Gabel | WP Suspension |
Gleitrohrdurchmesser (in mm) | 48 | Federbein | WP Suspension |
Gewicht (in kg)* | 106 | Preis ohne Nebenkosten (in Euro) | 8395 |

Honda CRF 450 R
Motor | |
Wassergekühlter Einzylinder-ohc-Viertaktmotor mit vier Ventilen pro Zylinder | |
Hubraum (in cm3) | 449 |
Bohrung x Hub (in mm) | 96 x 62,1 | Verdichtung | 12 |
Leistung* | 36,1 kW (49 PS) | bei Drehzahl (in /min)* | 9750 |
Vergaser/Einspritzung, | Einspritzung | Durchmesser (in mm) | 50 |
Gänge | 5 |
Fahrwerk | |
Brückenrahmen aus Aluminium | |
Gabel | Kayaba |
Gleitrohrdurchmesser (in mm) | 48 | Federbein | Kayaba |
Gewicht (in kg)* | 105 | Preis ohne Nebenkosten (in Euro) | 7910 |