Benelli Leoncino 800: Unkompliziert und präzise

Benelli Leoncino 800 im Fahrbericht
Unkompliziert, unangestrengt, präzise

Veröffentlicht am 17.04.2022

In den rauen Bergen des Apennin präsentiert Benelli, italienische Marke mit chinesischem Eigner, ihre neueste Raubkatze: die Leoncino 800, einen modernen Roadster mit klassischen Stilelementen. Vor fünf Jahren gelang dem Hersteller mit der 500er-Version ein erster Durchbruch seit der Übernahme durch die Qianjiang-Gruppe (QJ), zumindest in Südeuropa. Nun soll die Benelli Leoncino 800 mit ihren erwachsenen Abmessungen, mehr Hubraum und mehr Leistung auch den ersehnten Erfolg in anderen Ländern bringen, nicht zuletzt in Deutschland. In Benellis Europa-Zentrale in Pesaro, dem Stammsitz der mittlerweile 111 Jahre alten Firma, herrscht gespannte Erwartung.

Schon auf den ersten Metern gefällt die Benelli Leoncino 800, vom Start weg ist man mit ihr auf Du und Du. Alles passt, nichts hakt, am breiten Lenker gepackt, vermittelt die große Leoncino viel Vertrauen und Gelassenheit, lässt aber nichts anbrennen, wenn es drauf ankommt. Genügend Power für muntere Landstraßen-Trips steht mit 76 PS zur Verfügung. Beim Reihentwin handelt es sich um den gleichen Antrieb wie in Benellis sportlich angehauchtem Naked Bike 752 S, doch dank eines neuen Mappings und einer kürzeren Übersetzung gibt der sich in der Leoncino viel kerniger und hungriger, hängt gut am Gas und reagiert prompt. Mit seinem Hubzapfenversatz imitiert er einen V-2-Motor und spielt seine Reize folgerichtig vor allem bei niedrigen Drehzahlen aus, jenseits der 5.000/min geht ein wenig Dynamik verloren. Dafür gewinnt der Sound: Dank des größeren Hubraums knurrt der Zweizylinder nun noch bassiger als bei der 500er-Leoncino, ohne es mit der Lautstärke zu übertreiben. Für Tirol-Urlauber: Das Standgeräusch liegt mit 93 dB(A) unter dem inkriminierten Grenzwert der Österreicher.

Benelli Leoncino 800 mit TnT-Motor

Ursprünglich stammt der Motor der Benelli Leoncino 800 von dem wilden Dreizylinder ab, mit dem Benelli in den Nullerjahren seine berühmt-berüchtigte TnT befeuerte. Daher folgt er einem klassischen Aufbau mit nur einer Ölpumpe, viel Stahl statt Aluminium und bringt es so auf das stattliche Gewicht von 75 Kilo – rund 20 mehr als die meisten Konkurrenten. Die dicke 50-mm-Gabel, die großen 320er-Voderradbremsen und der 15-Liter-Stahltank steuern weitere Pfunde bei.

Doch anders als befürchtet machen sich die immerhin 222 Kilogramm vollgetankt nicht negativ bemerkbar, noch nicht mal bei schnellen Richtungswechseln auf den verwinkelten und oft schmalen Straßen im Apennin. Geraden besitzen in dieser Gegend Seltenheitswert, hier folgen enge Spitzkehren auf schlaglochübersäten Holperasphalt, um unverhofft für kurze Zeit in gutausgebaute Kurvenstrecken überzugehen – eine Mischung, die sowohl die Reflexe des Fahrers als auch das Fahrwerk auf die Probe stellt. Die Benelli Leoncino 800 meistert die Herausforderung, Upside-down-Gabel und Zentralfederbein, beide aus Benelli-Produktion, wirken gut aufeinander abgestimmt und verhelfen ihr zu einer stabilen Straßenlage. Lediglich auf besonders welligen Abschnitten tendiert sie dazu, ihre Linie zu verlassen, lässt sich aber flugs wieder einfangen.

Trotz ihres üppigen Gewichts fällt die Benelli Leoncino 800 fast von allein in Schräglage, der ausgewogene Mix aus Stabilität und Agilität macht es dem Fahrer leicht, vor jeder Kurve den richtigen Lenkwinkel einzuschlagen und beizubehalten; Korrekturen sind selbst auf den teils elend schlechten Straßen rund um den Muraglione-Pass nur selten nötig. Ankerpunkte dieser guten Vorstellung sind der breite Lenker und die aufrechte, aber vorderradorientierte Sitzposition, die viel Kontrolle ermöglichen. Weitere Unterstützung kommt von der Serienbereifung mit den gripstarken Pirelli MT 60 RS, die selbst auf den regennassen und teils rutschigen Straßen im Apennin vertrauenerweckend hafteten.

Mit 8.000 Euro kein Schnäppchen

Ordentlich und solide wirken Lackierung und viele Details, so der wertige Tankdeckel, der einstellbare Brems- und Kupplungshebel, die gummibewehrten Fußrasten und der Motorschutz. Also nichts zu meckern? Oh doch. So fehlt abgesehen von ABS und Abgassteuerung jegliche moderne Elektronik, es gibt weder Fahrmodi noch Traktionskontrolle. Letztere ist zwar bei 76 PS nicht zwingend nötig, beruhigt aber gerade bei schlechtem Wetter das Gemüt. Die Gabel könnte manchmal besser dämpfen, einige Teile wirken billig, und das fadendünne hintere Schutzblech sieht zwar scharf aus, bietet aber null Schutz vor Spritzwasser, wie die völlig verdreckte Kombi am Ende der regenreichen Testfahrt belegte. Dass es für den Beifahrer nur einen mickrigen Gurt auf der Sitzbank zum Festhalten gibt, rückt die Benelli Leoncino 800 in Richtung Single-Fahrzeug.

Doch wichtiger ist, wofür dieser unkomplizierte Roadster steht: China-Ware ist längst kein Ramsch mehr, erst recht nicht, wenn dem Hersteller eine engagierte Europa-Zentrale zur Seite steht, wie im Fall von Benelli am Stammsitz in Pesaro. Selbstbewusst verzichten die Chinesen inzwischen sogar auf Kampfpreise, sie wollen mit Qualität punkten. Entsprechend ist die Benelli Leoncino 800 kein Schnäppchen; mit 8.000 Euro selbstbewusst eingepreist, liegt sie in Schlagweite ähnlicher Motorräder von etablierten Herstellern. Denen erwächst hier allmählich eine ernsthafte Konkurrenz. Zumal Benelli bald einen weiteren Löwen in den Lions Club entlässt: In wenigen Wochen folgt die Leoncino 800 Trail mit 19-Zoll-Vorderrad, längeren Federwegen und weiter verschärfter Optik.