Wenn sich heute verkleidete Motorräder ihrer Kunststoffklamotten entledigen, ist das wenig ästhetisch: Kühlschläuche hier, aalglattes Motorgehäuse dort, alles mit dem Sexappeal von Feinrippunterwäsche. Als 1985 die XJ 900 F exklusiv für Deutschland blankzog, knisterte die Luft - was da für eine Schönheit unter den Verkleidungsteilen hervorkam! Aber Moment mal, ist die XJ nicht der Inbegriff des unkomplizierten Tourenbikes? Schließlich spielte sie sich vor allem mit Alltagstauglichkeit und Komfort in die Gunst der Käuferschaft und weniger ihres Aussehens wegen. Vermutlich Gründe, warum der verkleideten Variante letztlich der Vorzug gegeben wurde - nur ein Jahr später verschwand die XJ 900 N nämlich wieder vom Markt. Dabei taugt sie genauso wie ihre Schwestern. Ihre große Sitzbank bietet ordentlich Platz für zwei, die aufrechte Haltung hinterm Rohrlenker ist bequem. Elastizität ist das Stichwort für den zweiventiligen Vierzylinder: Besonders Schaltfaule freut es, wenn das XJ-Triebwerk bereits bei 40 Sachen im letzten Gang mit 1500/min vor sich hinbrummt.
Eigentlich schade, denn die Fünfgangbox lässt sich leicht und genau schalten, und das Getriebe ist perfekt gestuft. Sportlich Ambitionierte halten nach anderen Motorrädern Ausschau - für den engagierten Ritt sind sowohl die Federbeine als auch die Telegabel der XJ zu weich abgestimmt. Auf schlechten Straßen wird das Fahrwerk unruhig, auf Längsrillen reagiert die Yamaha empfindlich. Ihre Bremsanlage ist der bummeligen Auslegung angepasst und liefert erst bei kräftigem Zug am Hebel passable Wirkung. Wer es gemächlich angeht, kann den Verbrauch unter 5 Liter drücken, beim ungestümen Autobahn-Bolzen rauscht mehr als doppelt so viel durch die Vergaser. So hohes Tempo lässt ja auch keine Zeit, die Landschaft zu genießen. Oder die XJ selbst, die in der Kaffeepause ihren verrippten Motor knistern lässt. Ganz exklusiv, nur für dich.
Kurzurteil

Positiv
- Ordentliche Bremsen
- Soziustauglich
- Gut gestuftes sowie leicht und exakt schaltbares Getriebe
- Komfortable Unterbringung
- Elastischer, kraftvoller Motor
- Geschmeidiger Kardanantrieb
Negativ
- Gabel zu weich
- Neigt zum Pendeln bei hoher Geschwindigkeit
- Schlechtes Kaltstartverhalten
- Auspufftöpfe rostanfällig
Technische Daten

Motor Vierzylinder-Viertakt/Reihe
Hubraum 891 cm³
Kraftübertragung Fünfganggetriebe/Kardan
Leistung 72 kW (98 PS) bei 9000/min
Max. Drehmoment 81 Nm bei 7000/min
Bremse vorn Doppelscheibe (Ø 267 mm)
Bremse hinten Scheibe (Ø 267 mm)
Reifen vorn 100/90 V 18
Reifen hinten 120/90 V 18
Federweg vorn/hinten 148/100 mm
Tankinhalt 22 Liter, Normal
Wartungsintervalle 6000 km
Preis 5255 Euro
Die Messwerte:
Höchstgeschwindigkeit 201 km/h
Beschleunigung 0−100 km/h 4,2 sek
Durchzug 60−140 km/h 10,0 sek
Gewicht vollgetankt 242 kg
Zuladung 194 kg
Verbrauch Landstraße 6,5 l/100 km
Fazit

In der Stadt:
Das ehemalige Big Bike gibt selbst in überfüllten Innenstädten eine gute Vorstellung. Dank schmaler Bereifung und breitem Lenker wuselt die Yamaha leichtfüßig durch die City, vom bequemen Sattel aus behält man prima den Überblick. Enge Passagen sind mit dem schlanken Motor kein Problem.
Auf der Landstraße:
Die Heimat aller Naked Bikes macht auch mit der XJ 900 sehr viel Spaß. Mit passender Bereifung (Bridgestone BT-45) biegt sie sicher und frech ums Eck. Schlechten Fahrbahnbelag und hohes Tempo mag das komfortabel abgestimmte Fahrwerk nicht. Den Piloten entspannt von A nach B bringen hingegen schon.
Auf der Autobahn:
Eine nackte XJ kaufen und dann damit auf die Bahn? Den Windschutz der F-Modelle bietet die N-Version natürlich nicht. Ihre Geradeauslaufstabilität geht allerdings in Ordnung, selbst bei Tempo 200 hält sie ziemlich stur die Spur. Längsrillen hingegen erfordern Konzentration, der Verbrauch eine dicke Brieftasche.
Abschluss-Zeugnis
Kategorie Motor:
Kraftvoll und wunderbar elastisch ist der Vierzylinder, sein Getriebe lässt sich vorbildlich schalten. Hohes Tempo geht mit hohem Verbrauch einher.
4 von 5 Sternen
Kategorie Fahrwerk:
Wegbedingte Ungebührlichkeiten hält das Fahrwerk effektiv vom Fahrer fern. Eilige Piloten stören sich an der für sie zu weichen Abstimmung.
3 von 5 Sternen
Kategorie Bremsen:
Die Leistung der Verzögerungsanlage ist grundsätzlich in Ordnung. Nach heutigen Maßstäben benötigt sie allerdings relativ viel Handkraft.
3 von 5 Sternen
Kategorie Ausstattung:
Hauptständer, massiver Haltebügel für den Sozius und Kardan stehen auf der Habenseite. Okay für ein Naked Bike, für einen Tourer hingegen nicht.
2 von 5 Sternen
Kategorie Komfort:
Die weiche Federung macht auch schlechte Straßen erträglich, und die entspannte, aufrechte Sitzposition auf der bequemen Bank ist tourerwürdig.
4 von 5 Sternen
Kategorie Einsteigertauglichkeit:
Bis auf ihr hohes Gewicht spricht nichts gegen die XJ 900. Ihre Auslegung verbietet allzu riskante Fahrweise und kommt Reisefreudigen entgegen.
4 von 5 Sternen
Die XJ 900-Familie

Die Ur-version lief 1983 mit 97 PS starkem 853-Kubik-Motor, Lenkerverkleidung und Anti-Dive für 9458 Mark vom Band. 1984 erhielt sie eine rahmenfeste Halbschale, Motorspoiler sowie ein kombiniertes Lenker-/Zündschloss. Die XJ 900 N kam 1985 exklusiv für Deutschland ohne Verkleidung und Anti-Dive, N- und F-Version erhielten einen verbesserten Motor (891 cm3, 98 PS). 1986 Einstellung der XJ 900 N, F-Modell nun ohne Anti-Dive und Ausgleichsbehälter der Federbeine. Das Modelljahr 1987 bekam die bessere Bremsanlage der XJ 600. 1991 Reduzierung auf 91 PS wegen Geräuschvorschriften. Komplett neues Modell XJ 900 S Diversion im Jahr 1994, 272 Kilogramm, Motor mit 892 cm3 und 90 PS. Fahrwerk mit neuer Abstimmung, Gabel mit einstellbarer Federbasis ab 1996, Preis: 15 620 Mark. 1997: neue Sitzbank, Warnblinkanlage und Gabelprotektoren. Aufgrund des starken Yens deutlicher Preisanstieg auf 9101 Euro im Jahr 2001; Motor nun mit 902 cm3. 2004 Ende des Modells wegen neuer Emissionsvorschriften, Abverkauf für 9105 Euro.