100 Jahre BMW Motorrad: Die 2010er-Jahre

100 Jahre BMW Motorrad
BMW Motorrad in den 2010er-Jahren

Veröffentlicht am 26.12.2023

Dass in München zu Beginn des neuen Jahrtausends Handlungsbedarf bestand, war nicht nur Herbert Diess bekannt. Ebenso wie die Tatsache, dass der Spiritus Rector den Erfolg seiner Strategie nur mehr aus der Ferne im Vorstandssessel (Einkauf und Lieferanten der BMW AG) würde feiern können. Doch das wird den knallharten Verhandler und unbarmherzigen Kostensenker nicht lange bedrückt haben. Im Gegenteil: "Mission accomplished", meldete BMW Motorrad schon im Jahr 2009 an die Konzernspitze – und somit Diess an Diess. Das war ein Jahr vor der Markteinführung der neuen BMW S 1000 RR, des finalen und wichtigsten Bausteins des Dynamisierungsprogramms. Wäre der erste Supersportler aus München damals gefloppt – nicht auszudenken.

S 1000 RR legte direkt schnellste Rennrunde hin

Um das zu verhindern, griffen die Bayern zu außergewöhnlichen Mitteln. Statt nämlich zunächst ein neues Motorrad zu präsentieren und dann ein entsprechendes Rennsportprogramm aufzulegen, fingen sie in München am Ende an. Stiegen mit dem Australier Troy Corser mit einem Kaltstart in die Superbike-WM ein und begannen mit einem Paukenschlag, nämlich der schnellsten Rennrunde. Ein Einstand, der Erwartungen weckte. Aber auch einer, dessen Verheißungen bis heute nicht erfüllt wurden. Denn egal, was die Münchner in der Folge in der WM auch unternahmen – der Erfolg blieb auf Jahre überschaubar. Fahrer kamen und gingen, Teamstrukturen hatten die Halbwertszeit einer Seifenblase. Da halfen auch prominente Verpflichtungen wie die des Spaniers Ruben Xaus als Fahrer oder die des mit allen Wassern gewaschenen Ex-Ducati-Teamchefs Davide Tardozzi nicht weiter. Im Grunde fremdelt die S 1000 RR bis heute mit der Superbike-WM.

Diese Einschätzung gilt mit großer Wahrscheinlichkeit auch für die nächste Superbike-Saison. Und das, obgleich den Bayern bei der Fahrerbesetzung 2024 mit der Verpflichtung von Superbike-Superstar Toprak Razgatlioglu erneut ein Coup gelang. Doch selbst, wenn mit dem Türken der Durchbruch endlich gelingen sollte, blieb die BMW S 1000 RR im internationalen Rennsport eine Enttäuschung. Jedenfalls auf WM-Niveau.

Ein, zwei Stufen niedriger sieht die Sache hingegen komplett anders aus. Bis hinauf zu den nationalen Meisterschaften reüssierte die S 1000 RR wie kaum ein Renner zuvor. Warum, das brachte einmal ein BMW-Pressemann auf den Punkt: "In der Kurve können alle schnell. Auf der Geraden musst du schneller sein."

BMW S 1000 RR fuhr leistungsmäßig allen davon

Und das war die S 1000 RR. So viel stärker und so viel schneller, dass sich die Fachwelt fragte, wie das geschehen konnte. Der Grund: Spätestens im Jahr 2005 – also inmitten der Planung und Entwicklung der S 1000 RR – stand in München die zentrale Frage an, in welchem Leistungskorridor man zum Ende des Jahrzehnts landen müsse, um konkurrenzfähig zu sein. Mangels eigener Erfahrungswerte – es gab ja keinen Vorgänger-Motor – nahm man in Bayern die aktuelle Leistung des Klassenprimus, und das war damals ausgerechnet der famose Suzuki-GSX-R-1000-K5-Motor, zum Maßstab. Rechnete die Leistungsentwicklung der vergangenen Jahre hoch. Und landete bei knapp 200 PS.

Dass die vier großen japanischen Hersteller die Leistungssuche ausgerechnet zu jener Zeit überraschend einstellen und ihr Entwicklungstempo deutlich herunterfahren würden, konnte in München niemand ahnen. Die BMW-Truppe kämpfte sich tapfer durchs Lastenheft. Mit dem Ergebnis, dass der neue Renner leistungsmäßig allen anderen davonfuhr. Sie drückte regelmäßig mehr als die versprochenen 193 PS auf die Prüfstandsrolle, wo die Konkurrenz sich schon mit 180 PS schwertat.

BMW S 1000 R und BMW S 1000 XR

So viel zur S 1000 RR und ihrer Dominanz in den 2010er-Jahren, der in der Folge zahlreiche dynamische Derivate vom Roadster (S 1000 R) bis zum Crossover (S 1000 XR) oder gar der HP 4 (mit semiaktivem Fahrwerk) zur Seite gestellt wurden. Kuriosität am Rande: So vehement wie die Münchner mit der Doppel-R unfreiwillig die Leistungs-Messlatte nach oben gerückt hatten, so konsequent verabschiedete man sich auch schnell wieder vom PS-Fetischismus. Sowohl der Roadster S 1000 R als auch die S 1000 XR beschieden sich wieder mit 160 PS, während sich auf diesem Feld insbesondere die europäischen Hersteller einen Abnutzungskrieg lieferten.

K-1600-Baureihe mit neuem 6-Zylinder

In München hatten sie auch so genug zu tun. Stellten mit der K-1600-Baureihe einen Tourer mit komplett neu entwickeltem Sechszylinder-Reihenmotor vor, pflegten den Boxer bis zur Perfektion, fanden noch Zeit für eine Roller-Serie. Nicht unerwähnt bleiben soll die bereits 2006 vorgestellte F-800-Baureihe, mit der die Bayern eine völlig neue Mittelklasse etablierten. Wie visionär diese Entscheidung war, entpuppte sich erst jetzt, fast ein Jahrzehnt später. Reihenzweizylinder, rund 800 Kubikzentimeter – na, klingelt es? Mit diesem Motorenkonzept ist heute jedes zweite Mittelklasse-Motorrad unterwegs. Aktuell bietet BMW auch in der F-Baureihe vom Roadster bis zur Adventure eine komplette Modellpalette an. Dasselbe gilt für die R nineT, mit der München so früh wie erfolgreich auf den Retro-Zug sprang. Nicht ganz so überzeugend war die G-Klasse für Einsteiger.

Zum Schluss noch ein Wort zum Boxer, der in dieser Betrachtung bisher aus Platzgründen außen vor bleiben musste. Dessen atemberaubende Entwicklung gerade in der vergangenen Dekade hat gewiss ebenso zur Dynamisierung von BMW beigetragen wie die Entwicklung der S 1000 RR. Das gilt insbesondere für die GS, die sich – überspitzt ausgedrückt – von der braven Reiseenduro hin zur allseits gefürchteten Allzweckwaffe entwickelt hat. Hier ließen und lassen die Bayern nichts anbrennen, sondern setzten mit fortschrittlicher Technik wie der variablen Ventilsteuerung immer wieder neue Akzente. Doch das ist eine andere, ganz eigene und viel ältere Geschichte. Eine in diesem Jahr ganz genau 100 Jahre alte.