Vorn links zwischen Frontverkleidung und Lenkkopf versteckt es sich. Das unscheinbare Bauteil misst nur ein paar Zentimeter und wiegt wenige Gramm, verhilft der neuen BMW S 1000 RR aber zu zwei interessanten neuen Funktionen.
Zum einen soll die Lenkwinkelsensorik nämlich kontrolliertes Herausbeschleunigen aus der Kurve im festgelegten und elektronisch überwachten Driftwinkel von maximal 5,5 Grad Hinterradversatz zulassen. Und zum anderen könne man dadurch und mithilfe der neuen Motorschleppregelung natürlich ebenso elektronisch überwacht und abgesichert, mit Slides von bis zu acht Grad Hinterradversatz in die Kurve hineinrutschen.
Kein Race-Automat
Wer von teilautomatisiertem Rennfahren ausgeht und entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, liegt allerdings grottenfalsch – ganz so simpel gestaltet sich die Angelegenheit dann doch nicht. Die Sache hat nämlich den Haken, dass man erstmal bis dahin vorstoßen muss, damit die Systeme überhaupt ihre Arbeit im quer-dynamischen Bereich aufnehmen können. Perfekte Bedingungen dafür findet man auf einer Rennstrecke vor, beispielsweise auf dem Circuito de Almeria im spanischen Andalusien, wohin BMW zur Testfahrt mit der neue BMW S 1000 RR lädt. Die mit Bridgestone V02-Slicks bereiften Maschinen sind vollausgestattet, haben inklusive aller verfügbarer Zusatzelektronik, die M-Carbonräder, die M-Fußrastenanlage sowie einen Akrapovic-Endschalldämpfer aus dem umfangreichen BMW-Zubehör an Bord. Praktisch zum Warmfahren steht die Traktionskontrolle DTC, die in einem Bereich zwischen plus sieben (sehr viel Eingriff) und minus sieben (ganz wenig Intervention) operieren kann, auf der Mittelstellung null.
Zu viel Grip
Weil die frischen Slicks zu Beginn krass haften, driftet am Kurvenausgang zunächst gar nichts. Mitunter deswegen nicht, weil die Traktionskontrolle auf der Nullstellung schon vorher jeden Anflug von Schlupf verhindert. Da sich über den Tag immer zwei Testfahrer eine Maschine teilen und die Stints mit jeweils 20 Minuten relativ lang bemessen sind, büßen die Bridgestones ihren anfänglichen Mega-Grip aber bald etwas ein. Gleichzeitig baut sich das Vertrauen in das gutmütige und zugängliche Superbike so schnell auf, dass man den Wert der DTC Stück für Stück weiter nach unten stellt. Und sich durch diese Experimentierfreude langsam dem Bereich nähert, in dem die Slide Control überhaupt etwas zu tun bekommen könnte.
Fährst du quer, siehst du mehr
Als das Hinterrad schließlich in einer wilden Dritter-Gang-Passage nach rechts außen versetzt, taucht eine unsichtbare Hand auf und hält die Maschine für einige Meter in einem stabilen Driftwinkel bis ich das Gas schließe und das Anbremsen auf die Schikane vorbereite. Anschließend slide ich kontrolliert noch an einigen weiteren schnellen Passagen der Strecke, das kommt aber immer nur dann spürbar zustande, wenn ich die Linie gut treffe, mit höchster Konsequenz das Gas bediene und schlussendlich die Körperhaltung auf der Maschine passt. Fährt man nämlich kein Hanging-Off und bemüht sich nicht darum, den Körperschwerpunkt nach dem Kurvenscheitel von der Mittelachse des Motorrads nach außen zu bringen, driftet die M nicht. Dieses Erlebnis beschert mir jedenfalls zum ersten Mal einen zarten Einblick, was etwa die Superbike-WM-Profis meinen könnten, wenn sie davon sprechen, das Motorrad über das Hinterrad zu steuern.
S 1000 RR: Driften braucht Körpereinsatz
Was den Brake Slide Assist angeht, gilt es ebenso auf die Körperhaltung zu achten, den Lenker eher locker zu führen und das Motorrad dadurch in seiner Bewegung zu unterstützen, anstatt dagegen zu arbeiten. Theoretisch muss man spät und hart bremsen, im richtigen Augenblick voll auf die Hinterradbremse stehen (kein Witz, die Elektronik regelt das!) und genau dann leicht in die Kurve einlenken. Praktisch erfordert das Manöver aber nicht nur eine gewisse Überwindung, sondern vor allem Übung, damit alle beschriebenen Schritte zum richtigen Zeitpunkt ineinandergreifen. Aber: Bereits durch das harte Bremsen und schnelle Runterschalten kann durch die neue Motorschleppregelung ein leichter Anbremsdrift zustande kommen. Wie eingangs angedeutet, klappt dieser Kunstgriff immer besser, je mehr man übt. Und wenn die Reifen bereits nicht mehr ganz so frisch sind, hilft das!
BMW S 1000 RR Modell 2023: Das ist neu
Motor
- Drei PS mehr Spitzenleistung (210 PS bei 13 750/min)
- Neu gestalteter Lufteinlass
- Kanalgeometrie, Airbox und kurze Ansaugtrichter aus der M 1000 RR
- Gekürzte Endübersetzung (Kettenblatt 46 statt 45 Zähne)
- Rahmen, Geometrie, Fahrwerk
- Neue seitliche Durchbrüche im Rahmen für mehr Flex
- Lenkkopf 0,5 Grad flacher (66,4 Grad)
- Gabelbrücken-Offset um drei Millimeter verringert
- Nachlauf 99,8 statt 93,9 mm (knapp sechs Zentimeter länger)
- Radstand sechs Millimeter länger (1457 mm)
- Federbein in der Höhe einstellbar
- Schwingenwinkel und Heckhöhe nach Vorbild der M 1000 RR einstellbar
Elektronik
- Neue Lenkwinkelsensorik (Teil des Ausstattungspakets Fahrmodi Pro) erlaubt den Einsatz einer Slide Control, anwählbar in zwei Driftwinkeln unter DTC-Einstellung 3 und 2
- ABS Pro (serienmäßig an Bord) mit neuem Slick-Modus, abgestimmt für Slick-Bereifung für den Einsatz auf der Rennstrecke
- Die Funktion Brake Slide Assist erlaubt auf Grundlage der neuen Lenkwinkelsensorik das kontrollierte Reindriften in Kurven
- Überarbeiteter Quickshifter für optimiertes Hoch- und Runterschalten
- Einstellbare Berganfahrhilfe
- Verkleidung und Aerodynamik
- Neu gestaltete Front und Heckpartie
- Winglets (erstmals bei der S 1000 RR) erhöhen die Radlasten um knapp zwölf Kilogramm und verbessern die Fahrstabilität
- Höherer Windschild sorgt für bessere Umströmung des Helms
- Untere Gabelbrücke extra abgeschottet
Sonstiges
- Lithium-Batterie (zwei Kilo leichter)
- Kürzerer Kennzeichenträger mit neuen Steckverbindungen zur leichteren Demontage
- Distanzhülsen stecken "verliersicher" an den Rädern
- Angefaste Ankerplatte am Hinterrad erleichtert den Radeinbau
- 6,5-Zoll-TFT-Display mit zahlreichen neuen Funktionen, unterteilt in vier Bildschirmansichten (Pure-Ride mit den wichtigsten Informationen plus drei sogenannte Core-Screens). Unter anderem geben Schaltblitz und Drehzahlmesser gemeinsames Signal für den Gangwechsel, dazu informiert eine Anzeige über Betriebstemperatur des Motors. Nach Einschalten der Zündung kehrt das Cockpit außerdem zur zuletzt gewählten Anzeige anstatt zum Startbildschirm zurück.
- Kupplungs- und Lichtmaschinendeckel in Schwarz
- USB-Ladebuchse im Heck