Reiseenduros gelten unter Kehrenexperten als perfektes Einsatzgerät für den kompetenten Schwung um jedes noch so enge Eck: Aufrechter Sitz, viel Spielübersicht und breite Lenker führen den Blick automatisch durch alle alpinen Nadelöhre. Mit viel Fahrwerks-Federweg bügeln sie zudem straßenbauliche Nachlässigkeiten gekonnt aus, nehmen selbst Rumpelpisten den Schrecken.
Ein kleines Aber gibt’s beim Gros der Reiseenduro-Spezies allerdings auch: Komfortansprüche, Ausstattungswünsche und klasse Reisebedingungen selbst in der zweiten Reihe steigern quasi automatisch Abmessungen und Gewicht – und schlagen zumindest beim Rangieren eine ordentliche Kerbe in die Spaßwertung.
Sportlichkeit im Vordergrund
Muss doch gar nicht sein, finden Honda CRF 300 Rally und Voge 300 Rally. Beide verzichten gekonnt auf die barocke Üppigkeit vieler Reiseenduros, stellen mit ihren Wespentaillen den Aspekt Sportlichkeit in den Vordergrund und würzen dieses Arrangement zudem mit Gewichten, bei denen moderne Großenduros vor Scham rot anlaufen. Mit 154 Kilogramm vollgetankt wiegt die Honda CRF 300 Rally nur knapp über drei Zentner, die Voge 300 Rally sitzt ihr mit 166 Kilogramm dicht auf den Fersen.
Und dieses Wenige an Material und Motorrad wirkt sich nicht nur bei der Handhabung überaus positiv aus, es hat auch aufs Sitzgefühl großen Einfluss. So fällt der Knieschluss bei der Honda CRF 300 Rally so eng wie nirgends sonst beim 2025er-Alpen-Masters-Teilnehmerfeld aus. Das muss selbst die Voge 300 Rally anerkennen, bei der die Knie ein wenig weiter auseinander am Tank anliegen.
Dennoch begeistern die zwei mit einer spielerischen Leichtigkeit, die sonst kein anderes Motorrad des Alpen-Masters 2025 zu bieten hat. Das macht den Kopf frei, spendet Vertrauen. Kehren, wir kommen!
Honda CRF 300 Rally: gautschiges Fahrverhalten
Und schon ist es mit der coolen Lässigkeit wieder vorbei. Vor allem auf der Honda CRF 300 Rally. Die beeindruckt zwar auf den ersten Blick mit satten 900 Millimetern Sitzhöhe, bei der Voge sind es sogar 92 Zentimeter. Doch sobald der Hintern aufs schmale Sitzmöbel fällt, sinkt die CFR 300 in sich zusammen. Trotz erhöhter Vorspannung gibt sie den Wackelpeter. Hinzu kommt mit der IRC Trails-Bereifung äußerst grobes Profil, das beim Kurvenschwung und beim Bremsen nur wenig Gegenhalt bietet.
Falls es einen Präzedenzfall für gautschiges Fahrverhalten braucht: Voilà, die Honda CRF 300 Rally liefert ihn. Erst nach einigen Metern speichert das eigene Hirn ab, dass Rückmeldung und Lenkpräzision ab sofort zu den Akten gelegt werden können – und die Honda trotz dieser Minuspunkte frech um Kehren wischt. Ihr Pilot muss sich nur trauen.
Voge 300 Rally: mehr Fahrwerks-Reserven
Besser schlägt sich die Voge 300 Rally. Ihr Fahrwerk weist mehr Reserven auf, schwenkt nicht sofort die weiße Fahne, sobald jemand auf ihrer ebenfalls schmalen Sitzbank Platz nimmt. Zudem besitzen ihre Timsun-Reifen zwar ebenfalls viele Profilblöcke, die liegen aber enger beieinander, bieten in Schräglage mehr Gegenhalt. Während die Honda durch Kurven schunkelt, herrscht auf der Voge zwar auch ordentlicher Seegang, vom SOS-Ruf ist sie aber ein gutes Stück weit entfernt.
Erst hochschalten, wenn Begrenzer winkt
Deutlich dichter liegen die zwei Leicht-Enduros bei der Motorperformance beieinander. Mit 27 PS im Datenblatt bei der Honda und 29 bei der Voge haben sie erwartbar Mühe, wenn die Steigungs-Schilder am Fedaia-Pass 15 Prozent vermelden.
Da ihre kleinen Einzylinder an dieser Stelle die sonst übliche 140er-Marke für die Durchzugsmessungen zu zweit im zweiten Gang von 25 bis 75 km/h nicht packen, weil sie in dieser Getriebestufe vorher in den Begrenzer laufen, mussten sie ihre Performance mit Sozius-Last nur im Bereich 25 bis 60 km/h unter Beweis stellen.
Trotz der entschärften Bedingungen: Da geht wenig. Die zwei 300er mühen sich. Selbst solo unterwegs gibt’s bergauf für sie nur eine Prämisse: erst hochschalten, wenn der Begrenzer winkt. Die Honda CRF 300 Rally mit ihrem manierlichen und gut ablesbaren LC-Cockpit mahnt weiß blinkend per Kontrollleuchte vorm drohenden Drehschluss, bevor deren Dauer-Weiß den nächsten Schaltvorgang unerbittlich einfordert.
Auf dem schmalen und kontrastarmen Display der Voge 300 Rally braucht’s fast eine Lupe, um der Drehzahl auf der kleinen Anzeige zu folgen. Schalten? Nach Gehör.
Bremsen erfordert starke Arme
Spaß macht es im Sattel der beiden trotzdem. Warum? Weil sich ihr Potenzial eben komplett ausreizen lässt. Da braucht es keine Traktionskontrolle, sondern nur viel Engagement am Gasgriff. Wer sich darauf einlässt, steigt garantiert ziemlich happy beim nächsten Cappuccino-Stopp von ihnen ab.
Wenn es schon ums Anhalten geht: Unter diesem Aspekt bekleckern sich weder die Honda noch die Voge mit Ruhm. Die Bremse der Honda CRF 300 Rally packt solo wenigstens verlässlich zu – bei vertretbarer Handkraft.
Auf der Voge braucht’s schon Bodybuilder-Unterarme, um den vorderen Stopper in den ABS-Regelbereich zu zwingen. Zu zweit bergab verzögert bessert sich das nicht. Die groben Pneus reiben sich förmlich am Dolomiten-Teer auf – ohne dass das ABS im Extremen überhaupt einschreitet. Über 36 Meter Anhalteweg beim Verzögern von 75 auf 25 km/h bei der Honda und mehr als 37 Meter bei der Voge bedeuten die schlechtesten Messwerte in dieser Disziplin beim Alpen-Masters 2025.
Da hilft nur ein sehr vorausschauender Fahrstil. Wobei: Mit dürftigen 161 Kilogramm Zuladung geht die Honda sowieso als Solistenfahrzeug durch. Ähnlich sieht’s bei der Voge 300 Rally aus, die zumindest 182 Kilogramm aufsatteln darf.
Trotzdem setzt sich am Ende die Honda knapp vor die Voge, zieht ins Alpen-Masters-Finale ein. Ihre Siegchancen? Gering. Der Spaßfaktor? Trotz vieler Kritikpunkte 100 Prozent!












