Die Zahl der 1.000-Kubik Adventure- und Reisebikes ist überschaubar. Besonders, wenn es um emotionale Zweizylinder geht. Die GS ist mittlerweile bei 1.300 Kubik angelangt und die 900er-GS bietet nur Reihentwin-Rationalität, wie so viele andere. Bis auf Suzukis V-Strom 1050 und Ducatis V2 Multistrada gibt es in dem Bereich also schlicht nichts mehr.
Moto Guzzi Stelvio mit neuem Kardan
Bis jetzt, denn: Mit der Stelvio füllt Moto Guzzi diese Lücke zwischen den mit Bedacht auf Herstellungskosten gebauten Mittelklasse-Reiseenduros und den mittlerweile sehr wuchtigen, über 140 PS starken und kostspieligen Big-Adventure-Bikes. Und die Guzzi Stelvio zeichnet sich obendrein mit einem Alleinstellungsmerkmal aus. Keine andere der drei genannten "Lückenfüller" bietet einen Kardan-Antrieb.
Den haben die Ingenieure im Vergleich zum Kardan der V100 Mandello überarbeitet. Im Lastwechselbereich soll dessen Reaktion darauf noch weicher ausfallen. Ebenso an die Sekundärübersetzung des wassergekühlten 1.000er-Twins, der Euro 5+ erfüllt, haben sie sich gemacht und die Kupplung verbessert. Zunächst ein Blick auf das neue Chassis.
Neuer Stahlrahmen der Stelvio
Weil die Stelvio nämlich ein ganz eigenes hat. Anderer Stahlrohrrahmen mit entsprechend angepasstem Lenkkopfwinkel, der vorn vier Haltepunkte am Motor hat, was unter anderem die Steifigkeit gegenüber der Mandello (nur zwei Haltepunkte) um rund 20 Prozent erhöhen soll. Überhaupt haben die Entwickler bei der Stelvio auf höhere Torsionssteifigkeit geachtet, um das Fahrverhalten für diese Art Motorrad möglichst perfekt hinzubekommen.
Die Stelvio hat eine 46-Millimeter-Gabel von Sachs bekommen (Mandello 43 mm), die einen artgerechten Federweg von 170 Millimetern hat. Das Federbein von KYB hat ebenfalls 170 mm davon. Vorn wie hinten lässt sich die Vorspannung (hinten per Handrad) und die Zugstufe einstellen. Das elektronische Fahrwerk der S-Version ist in der Stelvio nicht vorgesehen, es ist keine andere Version geplant, hieß es beim Exklusiv-Termin in Noale.
Stelvio mit optimierter Aerodynamik
Viel Zeit bis zu diesem Moment verbrachten die Entwickler im Windkanal. Bis zu 50 Stunden haben sie sich wohl mit der Stelvio und deren Aerodynamik dort beschäftigt, was sich in den kleinen Spoilern rechts und links der stufenlos elektronisch einstellbaren Windschutzscheibe und dem kantigen Äußeren an der Front niedergeschlagen hat.
Die Suche nach dem Optimum hat die Ergonomie ebenfalls beeinflusst, bei der allerdings die Fortbewegung im Stehen etwa auf Schotterwegen eine Rolle spielte. Das Dreieck Raste, Sitzbank und Lenker ist deutlich aufrechter als an der Mandello, die Bodenfreiheit entsprechend größer. Das zweigeteilte Sitzkissen soll dem Mitfahrenden einen bequemen Platz bieten.
Offroad-Elektronik in der Stelvio
Auf der Elektronikseite hat die Stelvio fünf Mappings. Das ABS kann in "Offroad" abgeschaltet werden. Das Licht, das mit dem der Mandello baugleich ist, verfügt über eine Kurvenlichtfunktion und hat ein automatisches Fernlicht, das per Sensor entgegenkommende Fahrzeuge erkennt und entsprechend nachts ab- oder aufblendet.
So fährt die neue Moto Guzzi Stelvio
Der technischen Betrachtung sei es genug. Wir wollen fahren! Dazu animiert die Verarbeitung, die bei diesem Vorserienmodell sehr hochwertig wirkt. Die Lackierung namens "Giallo Savan" wirkt edel und zitiert die Guzzi-Tradition. Lediglich am 21-Liter-Tank im Übergang zur ebenfalls schön gemachten Sitzbank blitzen aus einer Sicke die darunter liegende Befestigungen durch.
Sei‘s drum, aufgesessen drängt sich sofort der breite und perfekt gekröpfte Lenker in den Vordergrund. Beim Druck aufs Knöpfchen startet die Stelvio mit einem leichten Wippen spontan und säuselt auffallend leise vor sich hin. Die Kupplung geht leicht und lässt sich so bestimmt beim Geländeeinsatz gut dosieren. Das Bike rollt los.
Feines Ansprechverhalten, ruhiger Lauf und viel Drehmoment
Und serviert schon aus dem ersten Kreisverkehr bei 2.500/min sein schönes Drehmoment ohne nennenswerte Vibrationen vom Motor. Da Mauro, Guzzis Entwicklungsfahrer, ab Werkstor mächtig Gas gibt, entscheide ich mich schnell für den Sport-Modus, in dem die Stelvio sehr direkt am Gas hängt und beim Aufdrehen ohne Rucken loslegt. Es wedelt sich prächtig Richtung Superstrada.
Die wir nehmen, nicht nur, um flott in die bergige Landschaft um Treviso zu gelangen, sondern, weil mich Mauro die erfolgreiche Aerodynamik-Arbeit und die Qualität des Chassis beim Kilometerfressen fühlen lassen will. Bei hohem Tempo stellt sich keinerlei Pendelneigung ein. Gut, Koffer sind keine zwar montiert, aber Fahrbahnunebenheiten bringen die Stelvio nicht aus der Ruhe.
Guter Windschutz auf der Stelvio
Hinter der maximal ausgefahrenen Frontscheibe sitzt es sich nahezu verwirbelungsfrei. Die Ergonomie passt wunderbar. Der erste Eindruck vom Lenker bestätigt sich erneut – liegt verdammt gut in der Hand. Die Kraftentfaltung und die Laufkultur des 115 PS starken Twins passt, Gleiten und dabei Strecke machen auf der Autobahn dürften mit der Stelvio schon mal kein Problem sein.
Genussvolles Handling
Nach der Mautstation warten dann kurvige Sträßchen. Hinauf nach Lago haben sie eine gebaut, die einer Rennstrecke Ehre machen würde. Genussvoll lässt sich die Guzzi in die schnellen Links- und Rechtskurven werfen. Der Hebel am Lenker ist perfekt, das Handling spielerisch, die Zielgenauigkeit und Stabilität in Schräglage vorn sehr sportlich, ebenso das Einlenkverhalten für ein Adventure-Bike mit einem Speichenrad in 19 Zoll (48,26 cm). Dazu passt die gut dosierbare, fest zupackende Bremse perfekt.
Sehr gutes, einfaches Fahrwerk
Das Fahrwerk spielt in jeder Phase mit. Der Ausgleich zwischen bequemem Reisen und der nötigen Straffheit gerade für engagierte Runden auf tadellosem Asphalt scheint Mauro und das Guzzi-Testteam genau getroffen zu haben. Das Feedback ist auf sehr hohem Niveau. Leider war es nicht möglich, die Stelvio mal im Zweimannbetrieb zu fahren oder auf Schotter zu entführen. Die Jungs wollten das Motorrad am nächsten Tag einem amerikanischen Kollegen in tadellosem Zustand vorführen – verständlich. Also machten wir schnell ein paar Fotos und flohen dann vor dem herannahenden Regen in die Weinberge etwas weiter südwestlich, wo der Prosecco herkommt. Enge Sträßchen, eng an die Berge geschmiegt, zwei Stunden lang Dahinfegen in Mauros Fun-Modus – hui, hat das mit dieser Stelvio geperlt!